An der Börse war das Wort Gesetz – Gespräch mit dem Finanzexperten und »Mr. Dax« Dirk Müller

von Michael Hoppe

Dirk Müller ist seit vielen Jahren das Gesicht der Börse. Kompetent und charismatisch versteht er es, das Börsenlatein so zu übersetzen, daß es auch Normalsterbliche begreifen. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und spricht Klartext. Seit 2016 beantwortet er regelmäßig Fragen der NATURSCHECK-Leser zu den Themen Politik, Wirtschaft und Finanzen. Auch die Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft beobachtet Dirk Müller mit wachem Auge.

Lieber Dirk, sowohl der NATURSCHECK als auch deine Informationsplattform CASHKURS feiern dieses Jahr 15ten Geburtstag. Und seit nunmehr acht Jahren unterhalten wir uns über die vielfältigen Facetten des Lebens. Worüber wir noch nie gesprochen haben, ist deine Vita. Wie bist denn eigentlich Börsianer geworden? Und woher stammt der Name »Mr. Dax«?

Dirk Müller: Das ist natürlich eine lange Geschichte. (lacht) Ich bin zwar in Frankfurt geboren, lebe aber seit meinem zweiten Lebensjahr in meinem badischen Heimatdorf. Heimat ist für mich sehr wichtig, meine Familie, meine Freunde, das ist für mich Geborgenheit. Auch als ich in Frankfurt an der Börse war, bin ich viele Jahre täglich 100 km hin- und zurückgependelt, weil die Verwurzelung für mich sehr wichtig war.

Hier auf dem Lande hatte man natürlich mit der Börse nichts zu tun. So habe ich mein Abitur gemacht, und genau zu dieser Zeit lief im Kino der Film »Wallstreet«, mit Michael Douglas. Da war ich mit meinem Kumpel Harald im Kino, und wie das so ist, waren wir total begeistert von den schnellen Mädels und den hübschen Autos (lacht). Und als wir das Kino verließen, fühlten wir uns wie Bud Fox.

So haben wir begonnen, uns mit der Börse zu beschäftigen, das Handelsblatt zu abonnieren und haben extra einen Briefkasten angemietet, ein Postfach, wo das Handelsblatt reinkam. In der ersten Pause haben wir das Handelsblatt durchgeblättert, in der zweiten Pause sind wir dann zur Sparkasse gerannt und haben Aktien gekauft. Ging meistens schief, aber wir hatten unseren Spaß dabei. Während der Mathestunde haben wir unter dem Tisch Chart-Analysen gezeichnet, kein Witz. Und die Lehrer haben uns verspottet.

Damals gab es ja weder Smartphone noch Computer. Da habt ihr also alles von Hand berechnet und gezeichnet …

Dirk Müller: Ja, ganz klassisch. Wir haben im Supermarkt Regale eingeräumt, um das Geld dann an der Börse zu investieren. Irgendwann stellte sich die Frage, was wir nach der Schule machen sollten. Die Börse war natürlich in weiter Ferne, und wir hatten auch keine Beziehungen, kannten niemanden. Also entschieden wir uns, eine Ausbildung bei einer Bank zu machen, die irgendetwas mit Börse zu tun hatte. 

Die einzigen Banken mit Börsenabteilung in der Region waren die Hypovereinsbank und die Deutsche Bank in Mannheim. So haben wir uns beworben, und Harald wurde bei der Hypovereinsbank genommen und ich bei der Deutschen Bank. Obwohl ich kein besonderes Abitur gemacht hatte, habe ich von 400 Bewerbern einen von 20 Ausbildungsplätzen bekommen. Zufälle gibt’s!

Ich wollte natürlich sofort in die Börsenabteilung, mußte aber zuerst einmal alle anderen Abteilungen durchlaufen. Schließlich kam ich tatsächlich in die Börsenabteilung. Das war ein wildes Treiben. Es wurde wild durcheinandergeschrien, jeder hatte 10 Telefone, und wie es sich für einen Auszubildenden gehört, saß ich nur stumm und ehrfürchtig dabei und hörte zu. Keiner kümmerte sich um mich, man hatte auch keine Zeit dafür. 

Dann passierte etwas, kurz vor der Mittagspause, das mein ganzes Leben veränderte. Der mir gegenübersitzende Händler lehnte sich zurück und sagte in breitem Mannheimer Dialekt: »Ach Gott, ich wär jetzt Geld für ein paar Mohrenköpfe.« (Börsendeutsch: »Geld« = ich würde kaufen) Durch einen verrückten Zufall hatte ich während der Bundeswehr Kontakt zu einer Mohrenkopffabrik und kannte deshalb die Großhandelspreise. Ich habe kurz überlegt, was ich am Morgen an Fachvokabular gehört hatte, habe meinen ganzen Mut zusammengenommen und im Brustton der Überzeugung gesagt: »Valuta Dienstag wäre ich 25 Brief für 50«. Das ist Händlerdeutsch und bedeutet: »Am Dienstag kann ich dir 50 Mohrenköpfe bringen zu 25 Pfennig pro Stück.«

Totale Stille am Tisch. Das hatte es noch nie gegeben, daß ein Azubi den Mund aufmacht und dann auch noch mit einem Handelsangebot. Ich habe erst später gelernt, daß solche Aussagen wie ein Vertrag sind. Der Angesprochene guckte mich mit großen Augen an und rief: »50 von dir.« Ich antwortete: »50 an Sie. Bleibt Brief!« Das heißt, ich habe noch mehr.

Da entwickelte sich ein tumultartiger Mohrenkopfhandel. Die anderen Händler griffen ein und kauften weitere Pakete, die sie per Telefon gleich an andere Abteilungen weiter vertickten. Natürlich mit Aufschlag! Erst später wurde mir klar, daß in so einer Abteilung alles gehandelt wird, wenn sich die Gelegenheit ergibt: Von gelben Gummibärchen über einen Hektoliter Bier bis zu tausenderweise Überraschungseiern – alles Mögliche. Für ungefähr 20 Minuten war der Handel mit Staatsanleihen eingestellt …

Dann ging plötzlich die Vorstandtür auf. Und Herr von Maltzahn kam raus. Das war ein ganz Gestrenger, Typ preußischer Adel. Alle schwiegen und dachten, es gibt Ärger. Der Handelsvorstand baute sich vor mir auf und sagte mit ganz ernster Stimme: »Herr Müller, haben Sie auch Mokka?« Da habe ich dem 50 Mokka verkauft und habe am Dienstag über 1000 Mohrenköpfe geliefert. Und obwohl Einstellungsstopp war, bekam ich ein Übernahmeangebot in die Handelsabteilung. 

So ist das im Leben: Man muß die Chancen ergreifen, die sich einem bieten. Wir bekommen ja häufig solche Gelegenheiten und haben dann meist nicht den Mut, den nächsten Schritt zu gehen. Bei dir war das ja ein echter Blitzstart. Und wie ging es dann weiter?

Dirk Müller: Kurz darauf nahm mich ein erfahrener Kollege zur Seite und fragte mich »Du bist doch so heiß auf die Börse?! Ich kenne da jemanden am Frankfurter Parkett, der sucht einen jungen Mann als Assistenten. Hast Du Interesse?« Ich war wie vom Donner gerührt. Natürlich hatte ich Interesse. Ich hätte sogar Geld bezahlt, um diesen Job machen zu dürfen. 

Also stand ich eines schönen Abends mal wieder mit zitternder Hose vor der mit Leder und goldenen Messingknöpfen beschlagenen Tür des »amtlichen Kursmaklers Hans Dittmar«, einer echten grauen Eminenz der Frankfurter Börse. Und ich glaube, es war einer der glücklichsten Momente meines Lebens. Er stellte mich ein. Und in dem Gespräch erwähnte er, daß er zwei junge Leute gesucht hatte. Und ich fragte: »Haben Sie den zweiten schon?« Er entgegnete: »Kennen Sie jemanden?«

Und so habe ich Harald angerufen, der war sofort begeistert, und wir haben am selben Tag im selben Büro in Frankfurt angefangen. Und das war unser Einstieg in die Börse.

Das zeigt wieder, wie wenig rational planbar unsere Lebensgeschichten sind. Vieles ergibt sich einfach, wenn man an seine Sache glaubt und eine Vision hat. Wie alt warst du, als es losging?

Dirk Müller: Ich war Anfang 20 und richtig glücklich. Und da der Auslöser für alles der Film »Wallstreet« war, wußte ich, wenn ich da anfange, brauche ich rote Hosenträger. Ich hatte einen Anzug, und meine Oma hat mir dann die Knöpfe angenäht. So ging ich stolz aufs Parkett und war der einzige Depp mit roten Hosenträgern an der Frankfurter Börse.

Und die Begeisterung für die Börse hat sich auch viele Jahre gehalten, was heute natürlich ganz anders ist.

Wie und wann ist es denn zu der Distanzierung oder auch Desillusionierung gekommen?

Dirk Müller: Als ich bei der Börse angefangen habe, war das noch eine ganz andere Börse. Es gab eine sehr hohe Ethik unter den handelnden Personen. Es waren über einhundert Händler, die auf dem Parkett herumrasten. Und ich habe ja vieles gemacht: Ich habe angefangen bei den Staatsanleihen. Und dort gab es ein ehernes Gesetz: Wenn du den Mund aufgemacht und irgendetwas gesagt hast, war das ein Vertrag. An der Börse war das Wort Gesetz.

Später war ich im Aktienhandel und habe den Aktienhandel geleitet für eine der größten Maklerfirmen vor Ort. Ich habe etwas ausgerufen, auf der anderen Seite des Saals hat einer gewunken, und es wurden ein paar Millionen Gegenwert gehandelt auf ein Winken hin. Und das hat jeder für sich notiert, und am nächsten Tag kam dann die Abrechnung. 

Ich habe in all den Jahren nicht erlebt, daß sich jemand nicht an diesen Ehrenkodex gehalten hat. Mit dem hätte nie wieder jemand gehandelt. Es war damals eine sehr kameradschaftliche Art, miteinander umzugehen.

Nach den Staatsanleihen bin ich gewechselt zu einem Freimakler, von das aus dann zu einem amerikanischen Haus, da wir übernommen wurden. Und das war so eine US-typische Geschichte: die kamen mit sehr viel Geld und haben in der teuersten Gegend in Frankfurt eine ganze Büroebene gemietet, mit Technik ausgestattet – und hatten keine Mitarbeiter.

Die haben dann die führenden Köpfe der anderen Teams angesprochen, denen sehr viel Geld geboten und Kopfgeld für alle, die sie aus dem Team mitnehmen. So sind ganze Teams zu den Amerikanern gewechselt. 

Die Amerikaner haben vieles versprochen, sich dann aber an keine Verträge gehalten. Der Boss sah aus wie der personifizierte Satan, gegelt und eiskalt, wie man es aus den amerikanischen Filmen kennt. Da habe ich die amerikanische Härte im Börsengeschäft kennengelernt.

So bin ich wieder zurück zum Aktienhandel, und das war dann ein ganz entscheidender Schritt. Ich kam zum wichtigsten Makler auf dem Frankfurter Parkett, und der hat mich dann wie seinen Ziehsohn unter die Fittiche genommen. Dort wurde ich dann auch ausgebildet zum amtlich vereidigten Makler und habe für die großen Dax-Unternehmen die Aktien gemacht. 

Ich habe auch viele Börsengänge begleitet, viele Unternehmen, die neu an die Börse gekommen sind.

Und wie wurde aus Dirk Müller aus der badischen Provinz der »Mr. Dax« für ganz Deutschland?

Dirk Müller: (lacht) Das Thema »Mr. Dax« kam, – wieder so ein Zufall – weil mein Arbeitsplatz direkt unter dieser schwarzweißen Dax-Tafel war. Und immer, wenn an der Börse etwas los war, kamen die Journalisten und haben diese schwarzweiße Tafel fotografiert. Und da eine schwarzweiße Tafel langweilig ist, hat man immer noch das Gesicht dessen mitfotografiert, der vor der Tafel stand – und in der Regel war das meines. So war mein Gesicht ständig auf der Titelseite irgendwelcher Magazine.

Und dann kam der Spiegel um das Jahr 1999 und hat mit mir eine Homestory gemacht über sechs Seiten. Denn jeder kannte mein Gesicht, aber keiner wußte, wer ich bin.

Und so kamen immer mehr Interviewanfragen, immer mehr Medienpräsenz, schließlich wurde ich für Vorträge gebucht. Da mir das alles großen Spaß machte, habe ich alles aufgeschrieben – und wieder ein Zufall – war ich in Kontakt mit einer Agentur in Hamburg, die sich mit Medien auskennt. Die brachten das Aufgeschriebene als Buch heraus – und völlig ungeplant wurde es das erfolgreichste Wirtschaftsbuch 2009.  

In der Folge entstand dann meine CASHKURS-Seite, die ja bis heute erfolgreich aktiv ist.

Es hat sich seitdem an der Börse vieles verändert. Steht man dort noch zu seinem Wort?

Dirk Müller: Das ist heute ganz anders. Heute gibt es nur noch den Computer, und damit ging das Drama los. Wir haben früher darauf geachtet, daß man sich gegenseitig aushalf, weil man sich ja jeden Tag sah und noch Jahre lang miteinander Handel treiben wollte. Einem Computer in New York ist es sch…egal, ob ich auf ihn sauer bin oder nicht. 

Mit dem Einzug des Computerhandels hat auch die Unlauterkeit Einzug gehalten. Den Anderen über den Tisch zu ziehen, wurde zum Grundprinzip. Es werden permanent Methoden ausgearbeitet: wie kann ich den Anderen in die Irre führen? Wie kann ich etwas vorgaukeln, das gar nicht ist? 

Das heißt: aus einem ehrbaren Umfeld, wo Menschen mit Menschen gearbeitet haben, wurde durch die Einbindung der Computer ein asoziales Casino, ein manipuliertes Casino.

Der Sinn der Börse früher war, Menschen, die eine tolle Idee hatten, die eine Erfindung gemacht hatten, aber kein Geld, um zu produzieren, zusammenzubringen mit Menschen, die Geld haben, aber nicht wissen, was sie damit anstellen sollen. Viele haben zusammengelegt, damit Ideen finanziert und umgesetzt werden konnten. Und alle haben davon profitiert.

So entsprach die Börse früher dem Genossenschaftsprinzip. Und heute wird fast nur noch mit heißer Luft gehandelt?

Dirk Müller: So ist es. Die Hauptaufgabe der Börse war, den Mittelstand zu finanzieren, was heute quasi überhaupt nicht mehr stattfindet. Die Börse wurde damals vom Land Hessen getragen. Und man achtete darauf, daß es keine allzugroßen oder häufigen Kursschwankungen gab.

Dann kam es zur Privatisierung der Börse. Und da man an jeder Kursveränderung verdient, wurden alle alten Regeln über Bord geworfen. Und jetzt handelt man im Nanosekundentakt hin und her.

Dadurch hat die Börse ihre eigentliche Aufgabe der Mittelstandsfinanzierung verloren, mit einem riesen Nachteil für die Volkswirtschaft, für die Bürger, für den Mittelstand, zum einzigen Vorteil der Zocker, der großen internationalen Bankhäuser. Und der eigentliche Sinn der Börse ist komplett verlorengegangen.

Wir sind also Zeitzeugen einer Entwicklung, wie sich das Finanzsystem immer mehr von der realen Wirtschaft abkoppelt. Gerade junge Menschen feiern heute die Kryptowährungen, die ja im Grunde auch komplett von der Wirtschaft entkoppelt sind und eine permanente virtuelle Wertsteigerung ohne eigene Leistung versprechen. Das suggeriert auch, daß man selbst gar keine Leistung mehr erbringen muß. Je mehr die KI übernimmt, desto unkreativer wird der Mensch? 

Dirk Müller: Zudem hat die KI keine Moral. Selbst ein böser Bube spürt im tiefsten Inneren noch, daß er falsch handelt. Die KI nicht. Sie hat keine höhere Anbindung, ist nicht nach oben ausgerichtet.

Wenn Menschen sich gegenüberstehen, ist das ganz anders. Für mich war mein Umfeld, meine Familie, meine Freunde, früher auch meine Kollegen an der Börse der Ausdruck dafür, daß wir nur dann glücklich und zufrieden sind, wenn wir menschlich und ehrlich miteinander umgehen.

Lieber Dirk, ganz herzlichen Dank für das wieder sehr offene Gespräch.

 

Das Interview führte
Michael Hoppe

Weitere Informationen:
www.cashkurs.com

© 2024  Verlag für Natur & Mensch | Impressum | Datenschutz