Wenn gläubige Menschen das Leid auf der Welt betrachten, fragen sie sich oft, warum keine höhere Macht eingreift, um es zu beheben. Unzählige Gebete werden tagtäglich von unzähligen Menschen gesprochen, die ganz offensichtlich keinen Widerhall finden. Denn sonst müßten wir alle reich und gesund sein, und auf dem Planeten Erde würden längst paradiesische Zustände herrschen – doch das Gegenteil ist der Fall. Woran könnte das liegen?
Der Atheist würde diese Frage sicher ganz einfach beantworten: Weil es keinen Gott gibt! Deshalb kann er auch nicht eingreifen. Also führen wir im Grunde Selbstgespräche, wenn wir die höheren Mächte um Beistand anflehen. Der Beweis ist das sichtbare Chaos in der Welt, wo sich wenig zum Guten ändert und sich vor allem religiöse Menschen seit Jahrtausenden gegenseitig die Köpfe einschlagen.
Der streng Gläubige hingegen würden vielleicht antworten, daß das Problem die Ungläubigen oder die Andersgläubigen sind, weil die nicht so leben, wie es von Gott gefordert wird. Und die Strafe ist dann das, was wir jeden Tag in den Nachrichten sehen. Gott ist böse auf uns Menschen und entzieht uns deshalb seine Hilfe.
Der Philosoph könnte die Weltlage so interpretieren, daß wir die ultimative Wahrheit noch nicht gefunden haben und daher Funkstille zwischen Gott und den Menschen herrscht. Deshalb heißt es „weitersuchen“ – und sobald wir den Code geknackt haben, wird sich uns das höhere Wesen endlich offenbaren und uns sagen, was genau es von uns will.
Das göttliche Mysterium
Das Wesen des Schöpfers zu verstehen, ist von jeher der tiefe Wunsch vieler Menschen. Und natürlich auch, bewußt mit ihm in Kontakt zu treten. Da dies jedoch leichter gesagt ist als getan und er sich auch selten in der Öffentlichkeit zeigt, hat man sich so seine eigenen Gedanken über ihn gemacht.
Was wurde in der menschlichen Geschichte nicht schon alles in Gott „hineininterpretiert“. Jede Kultur und Religion hat ihre Gottexperten und Propheten, die – so der religiöse Glaube – genau wissen, wie Gott tickt. Im Gegensatz zu den anderen Menschen hatten diese Wenigen „direkten Kontakt“ zu ihm und haben ihn quasi persönlich kennengelernt.
Bei diesen Begegnungen wurden ihnen Instruktionen übermittelt, wie der Mensch zu leben hat, um der Gottheit wohlgefällig zu sein und diese Begegnungserfahrung – eines Tages – ebenfalls machen zu können. Und wenn nicht auf Erden, dann allerspätestens im Himmel.
Ob diese Berufenen alle mit demselben Gott gesprochen haben, scheint allerdings fraglich. Denn die Übermittlungen sind doch sehr unterschiedlich. So können es je nach Kultur und Konfession nur 10, aber auch 10.000 Gebote sein, die tagtäglich einzuhalten und zu erfüllen sind. Dazu kommen die unterschiedlichsten Prozeduren und Rituale.
Während in früheren Zeiten so seltsame Gebräuche wie Tier- oder gar Menschenopfer auf dem Plan standen, kamen später modernere Varianten wie Selbstgeißelung, Askese oder auch sexuelle Enthaltsamkeit dazu. Auch das Töten Andersgläubiger galt lange als gottwohlgefällige Tat, um dem Schöpfer die eigene, unerschütterliche Treue zu beweisen. Eine Vorstellung, die sich heute bei einigen Glaubensgruppen wieder großer Beliebtheit erfreut.
Bei den Naturvölkern wurde im Freien getanzt, gesungen und geräuchert. Bei den urbanisierten Gläubigen findet der Gottesdienst stattdessen in oft dunklen, geschlossenen Räumen statt. Und obwohl vor Gott alle Menschen gleich sind, wurden auch viele Sonderregelungen eingeführt. Als sich zum Beispiel im Christentum zeigte, daß nicht alle Gläubigen über die geforderte Selbstdisziplin verfügen, erfand man den Ablaßhandel, bei welchem der Schöpfer auch einmal ein Auge zudrückte. Dort hieß es dann: „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt!“
Die religiösen Geschmäcker sind wahrlich sehr verschieden und natürlich auch die jeweiligen Anforderungen an den Gläubigen. Ich habe in jungen Jahren in Südfrankreich eine Zeitlang für eine jüdische Gastronomenfamilie gearbeitet. Dort konnte man (wenn ich mich richtig erinnere) zwischen verschieden strengen Glaubensgraden wählen. Das ging vom ultraorthodoxen Glauben, in dem Arbeiten verpönt und das Zeugen vieler Kinder ausdrücklich gefordert ist, bis zur allereinfachsten Stufe, bei der man am Sabbat, also samstags nicht rauchen darf.
Mein damaliger Chef rauchte unter der Woche Marlboro … und am Samstag immer Marlboro Lights. Wir haben zwar darüber gelacht – doch auch er wollte „seinem“ Schöpfer ein kleines wöchentliches Opfer darbringen.
Unser(e) Bild(er) Gottes
Obwohl uns alte Schriften mahnen, uns kein Bild von Gott zu machen, tun wir es dennoch. Und jeder ganz nach seiner Art. Ein jeder gottgläubige Mensch stellt sich Gott anders vor. Während die einen die Sonne, den Mond oder ein sechsarmiges Tierwesen anbeten, halten es die anderen mit menschenähnlicheren Bildern.
Für die einen ist Gott eine unbewegliche Statue, für andere ein hyperaktives Multitaskingwesen. Er ist überall gleichzeitig und mischt sich in alles ein. Er bekommt alles mit und überwacht uns ständig, da er ja das allsehende Auge ist. Das geht bis in das intimste Privatleben hinein.
Der eine Gott fordert gar nichts, der andere macht den Menschen unzählige Vorschriften, was sie zu essen und wie sie sich zu kleiden haben. Er erklärt, wie oft in der Woche und an welchen Tagen wir besonders gläubig sein und wie oft und wie lange wir beten sollen. Während der eine Gott nachsichtig schweigt, erzieht der andere seine Anhänger streng, indem er ihnen regelmäßig die Leviten liest und sie auf ihr sündhaftes Verhalten hinweist. Was in der Regel seine Vertreter für ihn übernehmen.
Für die einen ist Gott ein ruhender Fels, auf den man sich verlassen kann. Für die anderen ist er wankelmütig und unberechenbar, was es notwendig macht, ihn regelmäßig zu besänftigen. Am besten mit Opfergaben und hundertfach wiederholten Gebeten. Nicht, daß er in einem emotionalen Wutanfall einen Blitz auf uns wirft und uns dann – wie es die Gallier befürchteten – der Himmel auf den Kopf fällt.
Und natürlich hat Gott auch viele typisch menschliche Schwächen. Schon der griechische Obergott Zeus wurde regelmäßig dabei erwischt, wie er über die göttliche Stränge schlug und hin und wieder eine Menschenfrau verführte. Da Gott also auch nur ein Mensch ist, muß man ihn verstehen und darf nicht so hart mit ihm ins Gericht gehen. Seine Eskapaden sind eben Teil der unergründlichen Wege des Herrn. Und wenn mit der Obergöttin Hera dann auch noch eine echte Zicke mit im Olymp wohnt, dann wird so mancher unterdrückte Ehemann gleich doppeltes Verständnis haben.
Wenn diese Worte auch ein kleines bißchen ironisch klingen, so zeigen diese mannigfaltigen Gottesbilder doch, daß wir als Menschen dazu neigen, immer von uns selbst auszugehen – und damit unser Bild von Gott unseren eigenen Vorstellungen anzupassen. Was all das mit dem Schöpfer der Welt zu tun hat, das ist hier die große Frage.
Gott als Spiegel
Wir haben bei einer Seminarreihe einmal ein mehrjähriges Experiment durchgeführt: Alle Teilnehmer wurden befragt, wie sie sich Gott vorstellen. Erwartungsgemäß waren die Bilder sehr verschieden. Später haben wir die Teilnehmer dann ihren eigenen Vater beschreiben lassen. Und – ob Sie es glauben oder nicht – die Bilder glichen sich in über 90 % der Fälle.
Wer einen liebevollen und nachsichtigen Vater hatte, glaubte an einen ebensolchen Gott. Wer ohne Vater aufgewachsen war, neigte dazu, Atheist zu sein und an kein höheres Vaterwesen zu glauben. Oder zumindest an keines, von dem Hilfe zu erwarten ist. Wer zu Hause große Strenge erlebt hatte, der stellte sich auch einen sehr strengen und unnachsichtigen Gott vor. Wer vor seinem Vater Angst hatte, hatte meist auch Angst vor Gott und kein „Urvertrauen“. Und wenn die Mutter in der Familie das Sagen hatte, dann wirkte sich das ebenfalls massiv auf das individuelle Gottesbild aus: Man traute dem Schöpfer nicht allzuviel zu.
Nicht nur unser kulturelles Umfeld prägt unsere religiösen Sichtweisen, sondern vor allem auch unsere Kindheit. Hier entstehen oft Bilder, die wir das ganze Leben mit uns herumtragen. Da es so etwas wie eine objektive Wirklichkeit nicht gibt, sind diese Bilder das Resultat unserer erlernten Vorstellungen. Auf dieselbe Weise variieren die Gottesbilder in den einzelnen Religionen und Konfessionen, je nach Lebensumfeld, Familiensystem und Gesellschaftsordnung.
Eine eher patriarchalische Kultur stellt sich dabei einen männlichen Vatergott vor, der mit eiserner Strenge über seine Glaubensfamilie herrscht. In einer materialistischen Welt geht man davon aus, Gott würde sich für Geld- oder Sachspenden interessieren. Wer in der Natur lebt, sucht einen anderen Zugang zur universellen Urkraft als der Stadtmensch.
Wenn wir die vielen unterschiedlichen Gottesbilder betrachten, sehen wir darin vor allem die vielen unterschiedlichen menschlichen Sichtweisen. Gott ist quasi der Spiegel, in den der Mensch blickt und dabei dazu neigt, von sich selbst auf das höhere Wesen zu schließen.
Sich jedoch kein Bild von „Ihm“ zu machen, wie es ja mahnend in der Bibel heißt, ist gar nicht so einfach. Denn wir können ja gar nicht anders, als uns unser Gegenüber irgendwie vorzustellen. Außer beim Telefonieren – da genügt es manchmal, einfach nur zuzuhören.
Der wesenlose Gott
Über nichts läßt sich trefflicher streiten und philosophieren als über das Unsichtbare. Was an sich auch kein Problem wäre, käme nicht unser egoistischer Drang hinzu, immer rechthaben zu wollen. Und so neigen wir gerade bei Glaubensfragen dazu, „unsere Wahrheit“ als die alleinige und ultimative zu betrachten.
Dabei – und das wird selbst tiefgläubigen Menschen oft gar nicht bewußt – haben auch Menschen der gleichen Religion und Konfession kein einheitliches Bild von dem, den sie anbeten. Im Gegenteil! Oft gehen auch hier die Vorstellungen „himmelweit“ auseinander. Weise Menschen wie etwa der Dalai Lama fordern deshalb schon lange eine sogenannte überkonfessionelle Ethik, also ein gemeinsames Wertesystem, das alle Religionen annehmen können, ungeachtet der kulturellen Unterschiede. Dabei muß keiner sein persönliches Gottesbild, seine Kultur oder gar seine Religion aufgeben, sondern sich nur an ein paar übergeordnete Regeln halten. Da diese Gemeinsamkeiten in allen Religionen zu finden sind, sind sie quasi die Brücke zwischen den Ansichten und Kulturen.
Der Einfachheit halber, könnte man ja mit nur einer gemeinsamen Ethikregel beginnen. Zum Beispiel, indem wir die Natur betrachten und ein weltweit sichtbares Naturgesetz in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen, nämlich das Gesetz der Wechselwirkung, auch Gesetz von „Saat und Ernte“ genannt. In der Natur sehen wir, daß nie etwas anderes wachsen kann als das, was wir (ein)gesät haben. Ergo kann auch nur ein positives, respektvolles Handeln im Umgang miteinander zu einem guten Ergebnis führen.
Was so einfach klingt, wird auch heute noch in kaum einer Religion wirklich umgesetzt. Geschweige denn in der Politik, der Wirtschaft oder in unserem täglichen Zusammenleben. Wir glauben noch immer, durch Konkurrenz, Feindschaft, Haß oder andere Negativitäten ein positives Ergebnis erzielen zu können. Was jedoch völlig unmöglich ist!
Wenn wir dieses Schöpfungsgesetz zur ersten Grundlage unseres Handelns machen, dann wird sich in der Familie, der Gesellschaft und auch in anderen Lebensbereichen vieles zum Besseren verändern. Ohne daß ein Gott sich aktiv einmischen müßte. Was er ja sowieso nicht tut. Wie denn auch?
Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe tatsächlich eine Gottheit, wie sie sich viele Gläubige denken, also einen Gott, der willkürlich in die Geschehen auf unserem Planeten eingreift. Der für das Wetter verantwortlich ist, Seuchen auslöst oder Flugzeuge zum Absturz bringt. Der die einen Gläubigen den anderen vorzieht oder sich mit Geldspenden bestechen läßt. Der auf die Bitten der einen reagiert und die anderen absichtlich ignoriert. Was für ein Chaos würde das auslösen? Und wie wenig wäre ein solches „menschliches“ Verhalten eines göttlichen Wesens würdig?
Wir haben unser Gottesbild im Laufe der Geschichte immer mehr unserem Selbstbild angepaßt. Spätestens seit Michelangelo sehen wir einen „alten Mann mit Bart“ vor uns, also einen menschenähnlichen Gott oder gar eine Person. In der Mystik und in einigen asiatischen Lehren ging man stets von einer wesenlosen, universellen Urkraft aus. Von einer kosmischen Energiequelle sozusagen, die wie eine Ursonne hoch über allem Stofflichen leuchtet und die Welt durch vollkommene Gesetzmäßigkeiten in einem harmonischen Gleichgewicht hält. Wir kommunizieren mit dieser Ursonne wie mit einem Menschen – und sind dann enttäuscht, wenn die Antwort „nur“ ein stärkender Lichtstrahl ist und kein Sechser im Lotto.
Früher bat man den Schöpfer um Kraft und um den Segen für das eigene Tun, und nicht darum, daß er unsere Probleme für uns lösen soll. Es hieß nicht „zaubere meine Krankheit weg“, sondern „gib mir die Kraft, mich selbst heilen zu können“.
Heute zweifeln wir Menschen an unseren eigenen Fähigkeiten und erwarten, daß „der liebe Gott“ uns die selbstgeschaffenen Probleme abnimmt. Wie ein Vater, der seinem Kind alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumt, damit es ein leichtes Leben hat. Wenn er das nicht tut, beginnen wir an ihm zu zweifeln.
Dabei sind viele Schwierigkeiten dazu da, uns reifen zu lassen. Damit wir lernen, Verantwortung zu übernehmen und selbständig zu werden. Und uns endlich wieder darauf zu besinnen, daß der tiefere Sinn des Lebens das eigene geistige Erwachen ist.
Autor:
Michael Hoppe