All deine Träume zerfallen zu Staub – Interview mit der Musikerin und Demenzexpertin Dr. Sarah Straub

von Michael Hoppe

Sarah Straub ist Künstlerin mit Leib und Seele. Als Tochter eines Dirigenten und Instrumentallehrers spielte sie früh mehrere Instrumente und schrieb eigene Texte. 2014 erhielt sie den deutschen Rock- und Pop-Preis und stand bei Festivals mit Lionel Richie, Joe Cocker, James Blunt und Anastacia auf der Bühne. Mit dem Liedermacher Konstantin Wecker tritt sie regelmäßig im Duett auf. Parallel zu ihrem Künstlerdasein forscht die promovierte Diplom-Psychologin am Universitätsklinikum Ulm im Fachbereich Demenz und setzt sich für die gesellschaftliche Teilhabe von an Demenz erkrankten Menschen ein.

Liebe Sarah Straub, als wir uns das letzte Mal unterhalten haben, war die Welt noch eine andere. Das war im Februar 2020, kurz vor Beginn der Corona-Maßnahmen. Es fühlt sich an, als wären seitdem Jahrzehnte vergangen. Damals hat die Musik noch den größten Raum in Ihrem Leben eingenommen. Und auf einmal herrschte Kunst- und Kulturverbot. Wie haben Sie diese historischen Zeiten als Künstlerin erlebt?

Sarah Straub: Mein Leben hat sich sehr verändert durch diese Pandemie. Ich kann mich noch ganz genau erinnern an den Abend, als klar war: es kommt ein Lockdown. Da stand ich gerade in München auf der Bühne. Es waren kaum Zuschauer da, da Tickets reihenweise zurückgegeben wurden. Unter Menschen zu gehen, galt plötzlich als gefährlich. An dem Abend saß ich auf der Bühne am Klavier und habe während meines Auftritts unzählige Mails bekommen von Veranstaltern, die unsere Konzerte abgesagt haben. Als das Konzert vorbei war, war mein Terminkalender leer. Das werde ich nie vergessen.
Ich habe mich dann sehr schnell entschlossen, anderen Kulturschaffenden zu helfen. Weil ich ja, im Gegensatz zu meinen Kollegen, in einer sehr komfortablen Position war, da ich einen zweiten Beruf hatte. Durch meine Arbeit als Psychologin am Universitätsklinikum in Ulm war ich durch die Konzertabsagen nicht existenziell bedroht. Ich habe dann Streaming-Konzerte gegeben, um im Kontakt zu bleiben mit dem Publikum, habe mir Konstantin Wecker oder Werner Schmidbauer mit dazugeholt. Und ich habe mit ihnen Spenden gesammelt für Kulturschaffende in Not. Ich habe damals viele Kleinkunstbühnen mit Spenden bedacht, weil die innerhalb kürzester Zeit schon nicht mehr wußten, wie sie ihre Miete und ihr Personal bezahlen sollen. Auch Einzelkünstler habe ich bedacht. Denn viele Künstler leben ausschließlich vom Live-Spielen. Denn wir verkaufen ja keine Platten mehr, sondern verdienen unser Geld über die Tourneen. Das war schon Wahnsinn.

Auch in der Klinik war es sehr anstrengend, da ich Menschen mit Demenz begleite, die ja zur Hochrisikogruppe gehörten. Ich habe mich dann entschlossen, ein Buch zu schreiben für pflegende Angehörige. Ein Buch, das alles enthält, was man über die Pflege wissen muß. Und dieses Buch, das ein reines Pandemie-Lockdown-Freizeitprodukt war, wurde wahnsinnig erfolgreich. Seitdem bespiele ich die Bühnen dieses Landes zum Thema Demenz. Ich kombiniere Musik und Demenz, indem ich aus diesem Buch lese, kombiniere also Lesereise mit Konzertabenden.
So habe ich zum einen von den Pandemie-Maßnahmen profitiert, weil ich sonst dieses Buch nicht geschrieben hätte, zum anderen war es natürlich eine große psychische Belastung, keine Auftritte zu haben und nicht zu wissen, wie es weitergeht.

Viele Menschen haben sich von den Corona-Maßnahmen bis heute nicht erholt. Egal, wo man anruft, auf Ämtern oder in Firmen, überall sind die Menschen längerfristig krank, in Depression oder im Burnout. Vor allem Kinder haben extrem gelitten.

Sarah Straub: Ich erlebe, daß die Menschen keine Möglichkeit haben, zur Ruhe zu kommen. Seit Jahren sind wir im Ausnahmezustand. Zuerst durch die Pandemie, jetzt ist man plötzlich nicht mehr sicher in Europa, auch die Arbeitsplätze sind nicht mehr sicher. Das macht so viel mit den Menschen, und die Auswirkungen werden wir noch lange spüren. Und was die Pandemie angeht: Wir haben vieles nicht aufgearbeitet, es wird über Dinge gar nicht gesprochen. Tun wir das nicht, werden wir beim nächsten Mal wieder dieselben Fehler machen. 
Auch die Kulturszene hat sich massiv verändert. Alleine das Verhalten des Publikums, daß man Tickets nur noch auf den letzten Drücker kauft und Künstler und Veranstalter so überhaupt keine Planungssicherheit mehr haben. Die großen Stars sind wieder auf Tournee und nehmen uns quasi das Publikum weg (lacht). Und man bezahlt 400 Euro für ein Adele-Konzert, aber die 30 Euro für die Kleinkunstbühne nebenan, die spart man sich lieber.

Die Musik begleitet Sie ja von Kindesbeinen an. Wie kam es dazu, daß Sie sich dem Forschungsgebiet Demenz verschrieben haben?

Sarah Straub: Das Thema Demenz kam in mein Leben, als ich Anfang 20 war. Meine Oma ist an Demenz erkrankt, und da ich diese Frau heiß und innig geliebt habe, wollte ich sie selbst pflegen – bin da aber ziemlich kläglich gescheitert, weil ich einfach nichts wußte über Demenz. Das hat dazu geführt, daß ich mich in meinem Psychologiestudium verstärkt für dieses Thema interessiert habe.
Die Arbeit mit an Demenz Erkrankten und ihren Angehörigen wurde so zu einem Herzensthema. Und meine Vision, mich irgendwann ganz für die Musik zu entscheiden, revidiere ich inzwischen. Ich bin glücklich, daß ich in der Öffentlichkeit ein Sprachrohr für diese Menschen sein kann, die in der Gesellschaft viel zu wenig gesehen werden. Hier sehe ich meine Aufgabe. Ich möchte den Menschen auf der Bühne erzählen, daß ein gutes Leben mit Demenz möglich ist, daß eine Demenzdiagnose nicht das Ende des Lebens bedeuten darf. Das ist mir so, so wichtig.
Und im Grunde tue ich das auch für mich selbst. Denn wir werden alle älter. Und je älter wird werden, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, an einer Demenz zu erkranken. 

Ein guter Bekannter, der seit Jahrzehnten in der Altenpflege tätig ist, erzählte mir einmal von einem Bankdirektor, der ein extrem unglücklicher Mensch gewesen sei und dann im Alter das große Glück hatte, seinen Verstand zu verlieren. Kann das große Vergessen für manche Menschen nicht auch eine Art Erlösung sein?

Sarah Straub: (lacht) Das ist natürlich ziemlich drastisch formuliert. Aber grundsätzlich stimme ich zu, daß es Menschen gibt, die eine wirklich zauberhafte Zufriedenheit erlangen, wenn sie an einer Demenz erkranken. Woran auch immer das liegt. Ich sage aber immer zu den Angehörigen: Wenn das so ist, ist es echt eine Gnade. Denn es gibt auch Menschen, die sehr unglücklich werden in ihrer Demenz-Erkrankung, wo man richtig merkt, daß alte, unaufgearbeitete Traumata wieder hochkommen und jeden Tag bestimmen.
Man braucht auf jeden Fall sehr viel Einfühlungsvermögen. Und wenn man sich einläßt auf die Welt, in der viele an Demenz Erkrankte leben, kann das wirklich etwas sehr Beseelendes sein. Ich bin oft in einer Demenzstation, und Menschen kommen lachend auf mich zu, mit einer Puppe auf dem Arm, und stellen mir ihr Baby vor. Und ich freue mich dann gemeinsam mit ihnen. Wobei ich natürlich verstehe, daß sich Angehörige sehr schwertun, diese Veränderung im Wesen des Erkrankten zu akzeptieren. Es ist oft eine Art vorweggenommene Trauer, ein Abschiednehmen, obwohl der andere noch da ist.

Was Sie hier schildern, erleben wir seit gut einem Jahr live. Meine 87jährige Schwiegermutter lebt bei uns im Haus. Den schrittweisen Verfall kann man hier tagtäglich miterleben. Ob es sich um Demenz oder einfach um eine völlige Unlust am Leben handelt, ist schwer zu beurteilen. Wobei mir jedoch auffällt, daß sich meine Schwiegermutter im Grunde für nichts und niemanden interessiert und auch an nichts eine echte Freude hat. Sie funktioniert nur noch und folgt Routinen. Meist sitzt sie nur da und tut nichts. Was würden Sie in einem solchen Fall raten, wenn ein Mensch im Grunde nicht mehr leben will? 

Sarah Straub: Diese Passivität kann Teil einer Demenz-Erkrankung sein. Die Betroffenen benötigen unbedingt ärztliche Hilfe. Manchmal versucht man, medikamentös zu helfen, um den Leuten etwas mehr Auftrieb zu geben. Daneben kann es den Menschen helfen, wenn man ihnen die Gelegenheit gibt, sich mit Dingen zu beschäftigen, die sie vielleicht früher gerne gemacht haben. Vielleicht gibt es ja etwas, mit dem man sie hervorlocken kann. Das kann Musikhören sein, oder zusammen spazieren gehen. Denn das Problem ist: wenn die Betroffenen sehr passiv sind, beschleunigt das auch den körperlichen Abbau, weil sie sich nicht mehr bewegen. Umso wichtiger ist es, ärztlichen Rat einzuholen.  

In einem Ihrer Erklärvideos beschreiben Sie, daß es zahlreiche Arten von Demenz gibt. Und Demenz ist ja nicht etwa nur eine Alterserscheinung. Bereits bei Kindern und Jugendlichen wird inzwischen Demenz diagnostiziert. Auch die sogenannte »Digitale Demenz« schreitet immer mehr voran. Durch die ungesunde Mobilfunk- und Mediennutzung läßt die Konzentrationsfähigkeit und in der Folge auch die Intelligenz junger Menschen signifikant nach. Wie sehen Sie diese Entwicklung? Und wie könnte man hier positiv entgegenwirken?

Sarah Straub: Demenz als Überbegriff bedeutet zuerst einmal nur: geistiger Abbau. Da liegen ganz viele verschiedene Ursachen vor. Bei der Alzheimer-Demenz ist es fortschreitendes Zellsterben im Gehirn, da Proteine, die natürlich in unserem Gehirn vorkommen, verklumpen. So können die Zellen nicht mehr arbeiten und sterben ab. Es gibt aber auch Demenzformen, die sind gefäßbedingt. Da ist die Durchblutung im Gehirn gestört. Wenn Kinder betroffen sind, weist dies meist auf eine genetisch bedingte Erkrankung hin, die mit Umwelteinflüssen nichts zu tun hat.
Das, was man als »Digitale Demenz« bezeichnet, ist etwas, das man kontrovers diskutieren kann. Wenn Sie mich persönlich fragen, würde ich das gar nicht so fatalistisch sehen. Ja, die jungen Leute scheinen in der heutigen Zeit bestimmte Skills zu verlieren, wie etwa die Fähigkeit, sich auf eine Sache in Ruhe und über längere Zeit zu konzentrieren, wenn sie zu viel im digitalen Raum unterwegs sind. Weil dort alles auf Schnelligkeit und Kürze ausgelegt ist. Die Informationsgabe wird immer oberflächlicher. Bei Google hat man auch nie die 100%ige Garantie, daß die Informationen qualitativ hochwertig sind. Es fehlt da auch oft der Filter: Was ist eine gute Information und was nicht?
Das ist natürlich alles ganz schlecht für unser Gehirn. Unser Gehirn profitiert von Training, wie beim Sportler die Muskeln. Um aber die jungen Menschen in Schutz zu nehmen: Es werden heute andere Fähigkeiten erlernt, die man früher gar nicht hatte. Das Gehirn wird sich verändern durch die digitale Welt, aber nicht nur zum Schlechten. Ich glaube, daß es auch eine Chance sein kann, daß junge Menschen jede Info, die sie brauchen, sehr schnell bekommen. Und die lernen jetzt, Informationen zu filtern und effizient zu nutzen. Das ist sicher ein positiver Aspekt.

Kommen wir nochmal zurück zum Thema Kunst und Kultur. In der Corona-Zeit haben Sie ein Album aufgenommen mit dem Titel: »Keine Angst«. Sie sind ja nicht nur Musikerin und Sängerin, sondern schreiben auch eigene Texte. Womit befaßt sich das Album?

Sarah Straub: Ich habe das Album geschrieben unter dem Eindruck, daß die Welt plötzlich eine andere war.
Und ich war natürlich wie alle anderen auch zurückgeworfen auf mich selbst. Ich habe noch nie so viel Zeit zu Hause verbracht. Normalerweise bin ich heute hier, morgen dort. Ich liebe es, auf Tour zu sein.
So hatte ich auch Zeit, mich mit mir selbst und meinen Ängsten auseinanderzusetzen, was sehr gut war. In dieser Zeit ist mein bester Freund verstorben, der so alt war wie ich. Er hat an einer sehr schweren Krebserkrankung gelitten. Wodurch auch ich Ängste zu Sterben verspürt habe, seine Todesangst sich auf mich übertragen hat. Es gab einfach viele sehr intensive Themen, die ich dann in Liedern verarbeitet habe, um mir auch selbst Mut zu machen. Und zu sehen: alles, was uns Angst macht, kann uns am Ende des Tages auch stärken. Weil es wie eine Lebensschule ist, wenn man Ängsten nicht aus dem Weg geht, sondern sie zuläßt und sich ihnen stellt. Daß man daran wachsen kann. Das ist eine Erfahrung, die mich jeden Tag trägt, die mich auch in meiner Arbeit mit meinen Patienten trägt. Deren Schicksale machen mir durchaus auch manchmal Angst.
Und gleichzeitig sehe ich Menschen, die ganz wunderbar damit umgehen, die so stark sind. Und es ist so großartig, von ihnen lernen zu können.

Das ist das, was ich auch wahrnehme, daß in dieser Zeit der Stoizismus eine echte Renaissance erfährt. Also die Kunst zu hinterfragen: Kann ich an dem, was gerade geschieht, irgendetwas ändern? Vieles können wir einfach nicht ändern. Ich selbst habe 99 % meines Lebens damit verbracht, Dinge ändern zu wollen, die ich nicht ändern kann. Ändern und beeinflussen kann ich letztlich nur das, was in meiner eigenen Macht liegt.

Sarah Straub: Genau! Für mich ist das zentrale Element meines Lebens der Fokus auf die Menschen. Ich versuche selbst jeden Tag, ein guter Mensch zu sein. Und ich versuche jeden Tag, von den Begegnungen mit anderen Menschen zu zehren. Das empfinde ich als wahnsinnig bereichernd. Ob das jetzt Menschen sind, die schwer krank sind, oder deren Angehörige, oder Menschen im privaten Umfeld, egal! Ich empfinde die Begegnung mit den Menschen als großes Geschenk. Und da im Kleinen kann ich sehr wohl etwas verändern, indem ich meinen Mitmenschen empathisch begegne. Wenn die dann zurücklächeln, weiß ich: ich habe etwas bewirkt. 
Das große Rad können wir nicht verändern. Wenn jeder für sich versucht, ein guter Mensch zu sein, werden wir am Ende die Welt auch verändert haben. Auch wenn das vielleicht sozialromantisch klingt – daran glaube ich tatsächlich.

Liebe Sarah Straub, ganz herzlichen Dank für das sehr menschliche Gespräch und weiterhin viel Erfolg bei Ihrer Arbeit.

Das Interview führte
Michael Hoppe

Weitere Informationen:
www.sarah-straub.de

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