Schule als Lebenserziehung

Wie kann man die spirituelle Seite unserer Kinder zum Klingen bringen?

von Peter Maier

Ende Januar an einem Oberbayerischen Gymnasium. Es ist Showtime. Der komplette Abiturjahrgang ist versammelt. In einem über zweistündigen Abendprogramm präsentiert sich der Jahrgang mit vielen musikalischen Beiträgen. Die Schüler* geben ihr Bestes. Da extra ein Koch engagiert wurde, werden die Gäste – Eltern und Lehrer – zusätzlich mit feinem Essen bewirtet. Es wird ein schöner und kurzweiliger Abend.

Für mich als Pädagoge ist es eine große Freude, meine Schüler auch einmal von einer anderen Seite her zu erleben und zu sehen, welche Fähigkeiten in ihnen sonst noch stecken. Erstaunlich! Nach den Darbietungen habe ich Gelegenheit, vielen von ihnen ein positives Feedback zu geben. Irgendwie bekomme ich an diesem Abend das Gefühl, reiche Früchte zu ernten. Wieso?

Liebe zu den Schülern – Liebe am Beruf

Lehrersein kann nur dann gelingen, wenn man Freude am Wachstum und an der Entwicklung von jungen Menschen hat. Das erfordert Geduld, so, wie auch Eltern mit ihren eigenen Kindern Geduld haben müssen.
Meiner Ansicht nach braucht der Lehrerberuf, wenn er über ein ganzes (Berufs)Leben lang Freude machen soll, neben einer fundierten fachlichen Qualifikation und der Einstellung, Kindern geduldig bei ihrer Entwicklung zuschauen und daran Anteil nehmen zu wollen, noch eine weitere Qualität: Es ist eine grundsätzliche Menschenliebe. Denn Kinder und Jugendliche sind eben keine Produkte und keine Dinge, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, junge Wesen mit Gefühlen, die Unterstützung bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung und bei ihrem langjährigen Prozeß des Erwachsenwerdens brauchen und diese auch verdienen. In ihnen wächst die neue Generation heran, die unsere gesellschaftliche Zukunft darstellt. Unsere Jugendlichen sind das höchste Gut, das wir haben. Darum muß ihnen unsere ganze Liebe und Aufmerksamkeit gelten. Wenn ich als Lehrer nicht lieben kann, bin ich falsch in diesem Beruf und sollte kein Klassenzimmer betreten, so einfach ist das.
Darum wende ich mich entschieden gegen alle Versuche in der gegenwärtigen bildungspolitischen und gesellschaftlichen Diskussion, den Lehrer nur noch als „Lern-Manager“, als reinen „Wissens-Operator“ in einer digitalen Welt oder als bloßen „Assistenten“ auf dem individuellen Bildungsweg der einzelnen Schüler zu sehen. Kinder und Jugendliche haben Sehnsucht nach jemand ganz anderem: Sie brauchen im Lehrer einen Menschen mit Kopf, Herz und Bauch, der im Klassenzimmer steht, an dem sie sich orientieren und reiben und ihre Meinungen und Überzeugungen, ihrem Alter entsprechend, entwickeln können. Und sie suchen im Lehrer ein Vorbild und eine wichtige Bezugsperson, die sie wahrnimmt, bestätigt und – liebt.
Daher erscheint es mir nicht übertrieben im Zusammenhang mit dem Lehrerberuf einen Text aus dem 1. Brief des Apostel Paulus an die Korinther (Kapitel 13) zu zitieren, den sich auch viele Paare bei ihrer Hochzeit in der Kirche wünschen:

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete
und hätte der Liebe nicht,
so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.
Und wenn ich prophetisch reden könnte
und wüßte alle Geheimnisse
und alle Erkenntnis
und hätte allen Glauben,
sodaß ich Berge versetzen könnte,
und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts…“

Die Botschaft einer indischen Weisen

Natürlich kann dieser Text nur ein Ziel beschreiben, das sicher oft nicht oder nur im Ansatz erreicht werden kann. Es sollte aber nie aus dem Auge verloren werden, daß wir Lehrer unsere Schüler lieben sollten – aus einem Grundgefühl tiefer Menschlichkeit heraus.
Die indische Weise, spirituelle Lehrerin und Heilerin Amma, die als Frauenrechtlerin auch eine der UNO-Preisträgerinnen des begehrten „Gandhi-King-Awards“ ist, spricht von dem „Prinzip der „Mütterlichkeit“, die grundsätzlich in jedem Menschen, in Mann und Frau, wohnt. Sie meint damit die tief menschlichen Qualitäten des Mitgefühls und der Liebe.
Diese Einstellung sollten alle Menschen, unabhängig von ihrem Beruf, haben. Für uns Lehrer ist sie jedoch besonders wichtig. Wenn ich die Schüler nur als Objekte sehe, denen ich rein rational Wissen eintrichtern soll, werde ich meiner Berufung als Pädagoge nicht gerecht. Diese darf sich niemals nur auf den rein kognitiven, wissensmäßigen Bereich beschränken. Die Tätigkeit als Lehrer muß immer auch die emotionale und charakterliche Seite, sowie eine grundlegende Herzens-, Charakter- und Wertebildung bei den Schülern im Blick haben.
Amma ist der Auffassung, daß die heutige, vor allem technisch und wirtschaftlich ausgerichtete Bildung in vielen Ländern zur Mechanisierung der Menschen führt. Diese fatale Entwicklung sollte frühzeitig erkannt werden, um gegensteuern zu können. Die folgenden Gedanken von Amma, die sie in ihrer Rede während der abschließenden Plenarsitzung des „Parlaments der Religionen der Welt“ in Barcelona äußerte, können für mich daher als Grundlage gerade für den Lehrerberuf dienen:
„Es gibt zwei Arten von Erziehung: Erziehung für den Lebensunterhalt und Erziehung für das Leben. Studium an den Universitäten für ein Arzt-, Juristen- oder Ingenieursdiplom ist Ausbildung für den Lebensunterhalt. Demgegenüber verlangt die Ausbildung für das Leben das Verständnis der wesentlichen Prinzipien der Spiritualität. Das bedeutet, das Verständnis der Welt, unseres Geistes, unserer Gefühle und uns selbst zu erlangen. Wir wissen, daß das wahre Ziel der Erziehung nicht die Prägung von Menschen ist, die nur die Sprache von Maschinen verstehen. Der Hauptzweck der Erziehung sollte die Vermittlung der Herzenskultur sein, einer Kultur, die auf spirituellen Werten gründet. (-) Liebe ist unsere wahre Essenz. Liebe kennt keine Begrenzungen von Religion, Rasse, Nationalität oder Kaste. Wir sind alle Perlen, die auf die gleiche Schnur der Liebe aufgezogen sind. Diese Einheit zu erwecken und die Liebe, die unsere eigentliche Natur ist, an andere weiterzugeben – dies ist das wahre Ziel des menschlichen Lebens. (-) Liebe sollte die einzige Schnur sein, mit der alle Religionen und Philosophien verknüpft sind. Die Schönheit einer Gesellschaft liegt in der Einheit der Herzen.“

Die Herzensbildung nie vergessen

Es darf in der Schule niemals nur um reine Wissensvermittlung gehen und darum, die Schüler für den Industriestandort Deutschland „wissens-fit“ zu machen, sie dazu möglichst schnell durch die Schuljahre zu schleusen und zum Abschluß von Mittlerer Reife oder Abitur zu bringen. Wer dies in der gesellschaftlichen und schulpolitischen Diskussion fordert, leistet unserer Gesellschaft im Allgemeinen und unseren Schülern im Besonderen einen Bärendienst. Wenn sich die Kultusministerien unserer Bundesländer zu leicht von den vordergründigen Wünschen der Wirtschaft beeinflussen lassen und die Lehrpläne und Unterrichtsbedingungen nur noch auf eine bloße Vermittlung von Wissen und (digitalen) Kompetenzen abstimmen, werden sie ihrem selbst erhobenen doppelten Bildungsauftrag in der Praxis nicht mehr gerecht: in der Schule Wissensvermittlung und Persönlichkeitsentwicklung, fachliches Kompetenztraining und Wertebildung zu ermöglichen.
Wie schnell wird doch diese zweite Komponente der Persönlichkeitsentwicklung, der Charakterbildung und der sozialen Kompetenzvermittlung übersehen, die sich eben nicht so leicht oder gar nicht kontrollieren, messen und beurteilen läßt. Seit der Einführung eines achtjährigen Gymnasiums mit dem Turbo-Abitur als Abschluß in manchen westlichen Bundesländern ist diese Gefahr noch viel mehr gegeben. Ich möchte es einmal ganz radikal so formulieren: Wenn die Liebe und die Herzensbildung im Streß des Schulalltags aus den Klassenzimmern verschwinden, geht gleichzeitig auch die Seele von Unterricht, Schule und Bildung verloren.
Unsere Kinder und Jugendlichen sind keine bloßen Lernmaschinen, Lerncomputer oder digitale Wesen. Es sind Menschen in der Pubertät mit Körper, Geist und Seele, mit Gefühlen und Empfindungen. Daher tut unser Bildungssystem gut daran, diese verschiedenen menschlichen Ebenen immer gleichzeitig und gleichwertig im Blick zu haben – auch im Fächerkanon. Ohne die Liebe aber geht gar nichts! Und ich persönlich möchte kein Lehrer sein, der nur reines, nüchternes Fachwissen und Fachkompetenzen vermittelt. Dann würde ich meinen Beruf nur noch als bloßen „Job“ empfinden und die Motivation dafür schnell verlieren.
Diese Einstellung wird auch mit einem Spruch des Philosophen Phil Bosmans eingefangen, der für unzählige Menschen zu einem Inbegriff für Lebensmut und Lebensfreude geworden ist – Qualitäten, die besonders in der Schule und beim Lehrerberuf nicht fehlen dürfen: „Die Liebe ist wie die Sonne. Wer sie hat, dem kann vieles fehlen. Wem die Liebe fehlt, dem fehlt alles“.

Der pädagogische Eros ist entscheidend

Eine Pädagogik des Herzens sollte Freude machen. Zumindest sollte sie ein Klima und Bedingungen schaffen, in denen Schüler wie Lehrer eine lebendige Lernatmosphäre haben und Freude erleben können. Meine Erfahrung aus 37 Jahren Unterrichten zeigt: Begeisterung steckt an. Wenn ich als Pädagoge von meinen Fächern und von meiner Rolle als Lehrer, Erzieher und Initiations-Mentor nicht selbst begeistert bin, kann ich keine Begeisterung bei meinen Schülern erwarten. Sie sollten Freude am Lernen an sich und an den von mir unterrichteten Fächern im Besonderen bekommen können.
Diese Begeisterung des Lehrers muß ehrlich und darf niemals manipulativ sein. Denn die Schüler würden dies sehr bald merken, und man kann eine Begeisterung auf Dauer nicht vortäuschen. Man muß das Feuer für seine Fächer und den in der heutigen Bildungsdiskussion oftmals genannten „pädagogischen Eros“ in sich haben. Nur dann kann man selbst Begeisterung empfinden und diese an seine Schüler weitergeben.
Was aber ist dieser pädagogische Eros? Ich glaube, hier kommt eine nur nüchterne oder sachliche Beschreibung dieses Phänomens oder dieser Haltung schnell an ihre notwendige Grenze. Hier trifft zu, was in dem folgenden Slogan sehr plakativ eingefangen wird: „Man hat den pädagogischen Eros als Lehrer oder man hat ihn nicht.“ Oder in Abwandlung zu obigem Wort von Phil Bosmans könnte man auch sagen: „Der pädagogische Eros ist wie die Sonne. Wer ihn hat, dem kann vieles fehlen. Dem Lehrer, dem aber der pädagogische Eros fehlt, dem fehlt alles.“
Dieser pädagogische Eros ist eine charismatische Eigenschaft, die etwa in dem Film „Der Club der toten Dichter“ anschaulich gezeigt und für den Zuschauer erlebbar gemacht wird. Der Lehrer, gespielt von Robin Williams, hat diesen pädagogischen Eros jedenfalls und kann damit die meisten seiner Schüler auch erreichen. Beschreiben würde ich diese Ausstrahlung und Qualität mit liebevoller, persönlicher Zugewandtheit, großem Einfühlungsvermögen und überzeugendem Fachwissen. Getragen wird diese Ausstrahlung von dem tiefen Vertrauen, dem festen Glauben und der schon fast spirituellen Überzeugung, daß etwas von dem ganzen Unterrichtsgeschehen bei den Schülern in Resonanz gehen und die Fähigkeiten, die in ihnen schlummern, aufwecken und anfachen wird.
Ein älterer Kollege faßte die Essenz seiner Erfahrungen wie folgt zusammen: „Es ist schön, die Entwicklung von Jugendlichen zu sehen und sie dabei begleiten zu dürfen – fachlich wie menschlich. Dies hält jung und lebendig. Unterrichten, Lehren und Lernen dürfen auch Spaß machen. Ich bin gerne Lehrer…“

Autor
Peter Maier
Gymnasiallehrer, Jugend-Initiations-Mentor und Autor

Infos und Buch-Bezug:
www.initiation-erwachsenwerden.de
www.alternative-heilungswege.de

* Natürlich sind mit „Schüler“ immer Schülerinnen und Schüler, mit „Lehrer“ Lehrerinnen und Lehrer und mit „Pädagogen“ Pädagoginnen und Pädagogen gemeint.

 

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