Das Ego trennt uns, das Herz verbindet

Ein Beitrag der Autorin und Heilpraktikerin Feryal Kosan Genc

von Michael Hoppe

Im Mutterleib waren wir eins mit unserer Mutter. Ihr Herzschlag war der Grundton unseres Lebens. Über die Nabelschnur wurden wir ernährt. Wir waren geborgen in ihrem Leib, schwebend in Wasser. Schwerelos. Die Bedingungen waren günstig, so daß wir uns entwickeln konnten und schließlich bereit waren, verkörpert aus ihrem Leib in diese Welt einzutreten…

Wenn wir unter solch günstigen Umständen auf die Welt kamen, alles natürlich und komplikationslos verlief, wir liebevolle Menschen an unserer Seite hatten und unsere Mutter die Geburt wohlbehalten durchlebte, dann lagen wir geborgen in den Armen unserer Eltern. Warm eingepackt. Die Mutterbrust war sofort da, um uns zu nähren.

Die Beziehung zu unseren Eltern, insbesondere unserer Mutter, ist der Ausdruck tiefster und innigster Verbundenheit. Sie könnte es zumindest sein. Ein Fließen von Herz zu Herz. Geborgen in Liebe. Der Idealzustand, in welchem wir gedeihen.

Viele Menschen werden jedoch aufgrund der Umstände schon früh aus diesem Garten Eden vertrieben. Vielleicht, weil die Eltern in einer dysfunktionalen Beziehung lebten und nie ein Kind wollten. Vielleicht, weil unsere Mutter selbst nie eine liebende Mutter, einen liebenden Vater kennengelernt hatte und ihr dieses Gefühl der tiefen Verbundenheit fremd war. Vielleicht erlitt sie eine schwere Wochenbettdepression, die es ihr unmöglich machte, sich gut um uns zu kümmern. Vielleicht waren unsere Eltern so in ihrem Leid gefangen, so in Unbewußtheit verstrickt, daß ihre Herzenstüren nicht in der Lage waren, sich für uns zu öffnen.

Die Erden-Schule

Wenn wir beginnen, uns in die Umstände unserer Geburt einzufühlen, ändert es nichts an dem, was war. Aber durch das Verstehen öffnet sich unsere Herzenstüre, und wir können über diese wieder zur Verbundenheit zurückfinden. Denn wir sind nur hier, weil die Bedingungen genau so waren, wie sie waren. Allein die Empfängnis, das Gedeihen im Mutterleib und die Geburt sind ein Wunder. Unzählige günstige Bedingungen kommen zusammen, damit wir das Licht der Welt erblicken. Und selbst wenn der Start ins Leben schwer und leidvoll gewesen ist, so wirken diese günstigen Bedingungen weiter, damit wir zu Erwachsenen heranreifen können.

Wir sind hier, um in der „Erden-Schule“ zu lernen und uns zu entwickeln. Wir merken früher oder später, daß der vermittelte „Kopf-Ansatz“ begrenzt und vor allem trennend ist. Wir erkennen, daß wir auf die „großen“ Fragen des Lebens allein mit unserem Kopf nur unzureichende Antworten finden. Auch wenn dieses analytische Denken durchaus wichtig ist im Alltag, für das „Überirdische“ reicht es nicht aus.

Nur wenn wir lernen, mit dem Herzen zu sehen, zu hören, zu fühlen, zu riechen und zu schmecken, erweitert sich unsere Wahrnehmung. Wir erkennen mehr und mehr das unfaßbare Netzwerk des Lebens, beginnen in Zusammenhängen zu fühlen und diese mit unserem ganzen Sein zu erfahren. In der Zen-Praxis spricht man weniger vom Herz oder der Seele, sondern von der Buddha-Natur, dem wahren Selbst oder gar der Leere. Jede spirituelle Tradition umschreibt das Numinose mit anderen Begriffen.

Die Erden-Schule fordert uns dazu auf, Weisheit zu kultivieren. Der Sitz dieser Weisheit wird seit jeher mit unserem Herzen assoziiert. Es ist eine Art intuitives „Denken“, ganzheitliches Denken – wir könnten es auch Herzintelligenz nennen. In der Erden-Schule erkennen wir, daß unser Unterricht darin besteht, dem Leben mit dem Herzen zu begegnen. Das ist eine Erweiterung unserer herkömmlichen Sinne. Wenn wir uns auf diese Erden-Schule wirklich von Herzen einlassen, erfahren wir einen fundamentalen Perspektiven-Wechsel. Der Blick des Mangels wandelt sich in einen Blick der Fülle.

Statt mit den Augen der Angst, beginnen wir mit den Augen der Liebe zu sehen. Wir beginnen, mit dem Herzen zu lauschen, statt „nur“ mit den Ohren wahrzunehmen. Wir spüren immer mehr, daß unser Wohlergehen vom Wohlergehen aller abhängt. Wir fühlen, daß wir alle im Netzwerk des Lebens miteinander verwoben sind. Wir bekommen eine Ahnung davon – und wenn wir dem Ruf weiter folgen, führt uns diese Ahnung immer tiefer in unser Herz. In die Verbundenheit und Einheit.

Wir werden still. Lauschen mehr.

Wir hören unseren Geschichten zu, die das ewige Kopfkino fabriziert, und wir erkennen, daß wir dem Leben nur wahrhaft aus der Stille heraus begegnen können. Die Erden-Schule ist eine Schule der Stille.

Wir lernen, uns nicht mehr von Erscheinungen täuschen zu lassen, sondern dahinter zu schauen. Wir beginnen, wirklich zuzuhören. Uns selbst auch zuzuhören. Diesem Körper zu lauschen, der ebenso ein grandioses Wunderwerk ist wie überhaupt das Leben selbst. Wir fühlen Dankbarkeit und Wertschätzung.

Es spielt keine Rolle mehr, welche „Noten“ wir haben. Es ist auch vollkommen bedeutungslos, ob wir „besser“ oder „schlechter“ sind als die sogenannten Anderen. Das Lernen in dieser Schule des Lebens ist ein fortwährender Prozeß, ein Schritt nach dem anderen, und wir lernen in diesem Prozeß, mit Anmut zu fallen und das Scheitern nicht zu verdammen. Denn all das „Schwierige“ wird zu einem unserer größten Lehrmeister.

Die spirituelle Praxis beinhaltet auch ein Verlassen unserer Komfort-Zone. Spirituelle Praxis ist nicht bequem. Sie geht an unser Ego, das wir gewöhnlich als solide, feste Persönlichkeitsstruktur erfahren. Wir glauben, diese Persönlichkeit zu sein, und doch sind wir so viel mehr.

Auf dem spirituellen Pfad erkennen wir, daß kein Name unser Sein wahrhaft umfassen kann. Wir erkennen die wechselseitige Abhängigkeit alles Seienden. Und falls sich manche an dem Ausdruck „wechselseitige Abhängigkeit“ stören sollten, könnte man es auch, wie Thich Nhat Hanh es zu tun pflegt, „Inter-sein“ nennen.

Wir sind hier, weil alles so war und ist, wie es ist.

Wir sind hier, weil unsere Eltern und Ahnen den Weg bereitet haben. Wir sind hier, weil Himmel und Erde, die Sonne und die Sterne, die Pflanzen und Tiere uns nähren. Ohne sie könnten wir nicht sein. Wir leben in beständigem Austausch, sind mit allem verbunden, vernetzt. Das Ego trennt uns. Das Herz verbindet.

Verbundenheit kann nur aus dem Herzen heraus erfahren werden. Sie ist schon da. Es ist nicht so, daß sie erst erworben werden müßte. Wir sind mit allem verbunden, zu jeder Zeit, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht. Nie fallen wir aus diesem Netzwerk des Lebens. Wenn wir uns wandeln, wandelt sich das ganze Netz.

Unsere Seele oder unser wahres Selbst wissen darum. Unser Ego verneint das und glaubt, daß wir abgetrennte, isolierte Entitäten seien. Aber alleine schon, wenn wir unser Wunderwerk Körper betrachten, erkennen wir, daß unser ganzer Organismus aus nichts anderem als wechselseitiger Abhängigkeit besteht.

Der ganze Makrokosmos spiegelt sich in unserem Mikrokosmos. Das Netzwerk des Lebens ist in uns erfahrbar, fühlbar und läßt uns das Leben mit den Augen der Achtung und Demut betrachten. Wir sind hier auf dieser Erde verkörpert, um zu lernen. Das zu lernen, was wesentlich ist, das hinter uns zu lassen, was unwesentlich ist – und die Weisheit zu kultivieren, das eine von dem anderen zu unterscheiden.

Wir sind da, um zur Liebe zurückzukehren. In ihr unser Sein zu gründen. Jesus, Buddha und andere Weise haben uns genau das vorgelebt und sind verkörperte menschliche Wesen, die das in uns geborgene Potential auf inspirierende und eindrucksvolle Weise vorlebten. Mit ihrem ganzen Sein.

Autorin
Feryal Kosan Genc

Weitere Informationen
www.daowege.de

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