Das Herz und die heilsame Kraft des (Mit)Fühlens

Aus der NATURSCHECK-Kolumne „Die (R)Evolution des Herzens”

von Feryal Genc

Es gibt vielfältige Methoden und Techniken zur Konfliktbewältigung. Es gibt unzählige tiefgründige Weisheitstraditionen, welche (innere) Freiheit und Frieden kultivieren. In ihrer Essenz treffen sich alle Wege. Jack Kornfield hat dies wunderbar in Worte gefaßt: »Alle spirituellen Methoden sind nur Mittel, um Gewahrsein, Herzenswärme und Mitgefühl auf dem Weg zu entwickeln. Das ist alles.«

In diesem Artikel möchte ich auf die heilsame Kraft des (Mit-)Fühlens eingehen, losgelöst von spezifischen Traditionen. Um jedoch ein mitfühlender Mensch zu sein, ist es notwendig, daß wir zu einem fühlenden Menschen werden. Warum dies so wichtig ist und wie es gelingen kann, möchte ich in diesem Artikel beleuchten und auf die Essenz komprimieren. Diese lautet: Atmen – Fühlen – Sein.

Über das Atmen

Um den Atem aus seinem Korsett von unbewußten Konditionierungen zu befreien, ist es notwendig, ihn mit unserer Achtsamkeit zu durchweben. Nur mit der Taschenlampe der Achtsamkeit können wir das Unbewußte bewußt werden lassen. Erst wenn uns das Licht der Bewußtheit dämmert, begeben wir uns auf den Weg des erwachenden Herzens. Es geht hier nicht darum, Atem-Techniken anzuwenden, den Atem kontrollierend zu vertiefen oder zu verlangsamen. Wir üben nur, bei uns zu sein und den Atem so zu spüren, wie er sich gerade im Moment zeigt.

Übung 1: Egal, wo du gerade bist, ob du stehst oder sitzt, halte inne. Lege die Zeitschrift bewußt aus der Hand, und richte die Aufmerksamkeit auf deinen Körper. Schließe die Augen, wenn es dir hilft. Atme. Fühle den Einatem durch die Nasenlöcher strömen, fühle den Ausatem durch die Nasenlöcher ausströmen. Achte darauf, wie sich der Atem anfühlt. Welche Bereiche im Körper werden von der Atembewegung spürbar erfaßt? Wie fühlt sich die Atembewegung im Bauch-/Beckenraum an, wie im Brustkorb? Wenn der Geist unruhig ist, kannst du die Atemzüge zählen. Bis 10. Dann wieder von vorne beginnen. Das Zählen ist gerade am Anfang eine hilfreiche Technik, um den »Affen-Geist« zu beschäftigen, so daß er uns nicht ganz und gar einnimmt.

Übung 2: Du liest weiter und nimmst den Atem wahr. Mehr nicht. Es ist jetzt nicht wichtig, zu beobachten, wo der Atem sich ereignet, wie er sich zeigt, sondern jetzt geht es nur um das Spüren. Das Wahrnehmen des Atems läßt sich nicht nur beim Lesen üben, sondern in allen alltäglichen Handlungen. Beim Staubsaugen, Gemüsewaschen, Putzen etc. Schreibe dir gern »Atem-Zettel«, die du als Erinnerung in der Wohnung, Arbeit oder im Auto verteilst. So vertiefen wir Schritt für Schritt das »bei uns sein«. Im Gegensatz zur Erfahrung des »außer sich seins«. Wir können nur wahrhaftig fühlen und mitfühlen, wenn wir bei uns sind.

Diese Übung des »Innehaltens« läßt sich überall realisieren. Im Büro, daheim oder in der Natur. Wirklich überall. Wir drücken den unsichtbaren Pausenknopf. Spüren unseren Körper. Spüren den Atem. Mit jeder Wiederholung, mit jedem Innehalten, stärken wir unseren »Achtsamkeitsmuskel« und damit das Gewahrsein. 

Es ist und bleibt faszinierend, den Atem zu erforschen. Gerne auch in Begleitung eines erfahrenen Lehrers und Therapeuten oder in einer heilsamen Gruppe. Gerade bei gesundheitlichen Beschwerden empfehle ich die Reise unter fachkundiger Anleitung, denn die Befreiung des Atems kann unter Umständen tiefsitzende und unerlöste Konflikte freisetzen.

Über das Fühlen

Was ist Fühlen? Die Crux mit den Worten ist, daß sie stets nur eine Annäherung sind. Der Finger, der auf den Mond zeigt, nicht der Mond selbst. Statt Fühlen könnte ich auch das Wort Gewahrsein verwenden. Aber was ist Gewahrsein? Gewahrsein ist nichts, was ich aktiv tue, sondern eher ein rezeptives Sein ohne Projektion und Interpretation.  

Die Basis für Gewahrsein ist Achtsamkeit. Achtsamkeit und Gewahrsein bedingen einander. Je achtsamer ich lebe, desto mehr werde ich mir der Erfahrung des gegenwärtigen Momentes gewahr. Ohne Projektion. Ohne Interpretation. Und wenn Projektion und Interpretation sich manifestieren, erkenne ich sie im Raum des Gewahrseins als solche an. Das schafft Freiräume. Mein Handeln erwächst mehr und mehr aus dem Moment. Auf dem Pfad der Achtsamkeit werden wir dabei Schicht für Schicht frei(er) von unheilsamer und fesselnder Indoktrination, Manipulation und Konditionierung.

Fühlen heilt! Und damit ist nicht die Verstrickung in Emotionen gemeint. Emotionen entstehen durch unsere Interpretation von Ereignissen. Wenn wir unsere Emotionen nicht bewußt fühlen, beherrschen sie uns, ohne daß wir es wahrnehmen. Wir glauben, daß bestimmte Ereignisse und Menschen für diese Emotionen verantwortlich sind. Wir halten die Emotionen, die entweder in einem angenehmen oder einem unangenehmen Gewand erscheinen, für Tatsachen. 

Die Rückkehr zum bewußten Fühlen bedeutet, daß wir üben, aus dem Kopf ins Fühlen zu kommen. Der Weg geht also mitten hinein, genau an die Orte, die ich fürchte. Ich fühle die Angst, die Sorgen, den Ärger und weitere Emotionen wahrhaftig. Statt die Emotionen wegzudrücken oder (unbewußt) auszuagieren, statt im Außen nach einem Schuldigen zu suchen, gehe ich mit ihnen direkt in Kontakt. Und nur wenn ich mit mir und meinen Emotionen wahrhaftig in Kontakt treten kann, kann ich auch mit meinen Mitmenschen in echten Kontakt und Austausch treten.

»Bewußtes Fühlen befreit uns von der Annahme, unsere Emotionen seien Tatsachen, die uns betreffen und die uns bedrohen oder zerstören können.« (Safi Nidiaye)

Unsere fünf Sinnestore sind wertvolle Türen auf dem Weg vom Kopf ins Gefühl und Begleiter auf dem Pfad der Achtsamkeit und des Gewahrseins: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten.  Wir denken (!), wir sehen, hören, riechen, schmecken und tasten, und doch ist es oft nur eine oberflächliche Erfahrung. Meist handelt es sich mehr um eine Kopfsache als um tatsächliches Fühlen. Im Fühlen wird der Kopf allmählich still(er). Es entfaltet sich eine intuitive Intelligenz: die Weisheit, die dem Herzen entspringt. Denn erst, wenn es still wird in uns, können wir auf die feine Stimme des Herzens lauschen.

Wenn wir z.B. eine Pflanze sehen, denken wir »das ist ein Gänseblümchen«, »das ist eine Vogelmiere«. Vielleicht weiß ich noch, daß das Gänseblümchen heilende Wirkstoffe enthält oder die Vogelmiere wunderbar in der Wildküche zu verspeisen ist. Mit den Pflanzen wirklich in Kontakt zu treten, ist aber eine ganz andere Erfahrung. Eine tiefe und vertiefende Erfahrung – ein pulsierender Raum der Lebendigkeit und Begegnung. Echte Begegnung. Ein Fühlen und Mitfühlen. Wenn ich das nächste Mal z.B. ein Gänseblümchen sehe, halte ich inne. Ich trete näher heran. Ich betrachte sie, ihre Blüten, ihren Stängel, ihre Farben, ihre Form. Taste die Pflanze, rieche an ihr. Vielleicht koste ich sie auch, indem ich sie in meinen Salat integriere. Fühle und lausche.

Oft fällt es uns in der Natur bzw. mit Pflanzen, Bäumen und Tieren leichter, in echten Kontakt zu treten. Warum? Weil Pflanzen, Bäume und Tiere unmittelbar SIND. Sie werten nicht, be- und verurteilen uns nicht, sie treten mit uns unvoreingenommen in Kontakt, und wir können von ihnen lernen, wie das geht. Ganz still werden. Ganz leer werden. Alle Konzepte fallen lassen. Uns auf eine ganz neue Begegnung einlassen. Fühlen. Da sein. Mit allen Sinnen. Sehen. Hören. Riechen. Schmecken. Tasten.

Sehen und Hören sind vielleicht mehr ans Denken gekoppelt wie das Riechen, Schmecken und Tasten. Besonders das Sehen ist durch zahlreiche Konzepte und Konditionierungen verschleiert. Diese Schleier mit dem Licht der Achtsamkeit zu lüften, ist der Weg zum echten Fühlen und damit Mitfühlen.

Übung für den Alltag – ein Sinnesfest feiern:

Wähle ein Sinnestor, z.B. das Tasten. Konzentriere dich einen Tag lang ganz und gar auf alle sinnlichen Eindrücke, die durch das Tasten entstehen. Wenn du ein Glas in die Hand nimmst, spüre das Glas, seine Textur und Kontur, die Temperatur, die Oberfläche. Spüre die Erde unter deinen Füßen, den Teppich, die Beschaffenheit des Bodens, seine Temperatur etc. Spüre beim Geschirrspülen oder Aufräumen die Teller, Gläser, das Besteck. Taste die verschiedenen Materialien (Holz, Glas, Keramik), spüre ihre Oberfläche, ihre Temperatur etc. Jeder Tag bietet unzählige Tast-Empfindungen. Oft sind sogar Gedanken und Emotionen an bestimmte taktile Eindrücke gekoppelt. Auch diese nehmen wir wahr, ohne zu bewerten.

Über das Sein

Über das Sein läßt sich nicht viel schreiben. Es läßt sich nur erfahren, mit allen Sinnen, atmend, fühlend. Ganz und gar leben. Die Natur zeigt uns wie, wir müssen nur hinschauen, hinfühlen. Wir sind darin mit allem verwoben, in ein großes Ganzes eingebettet. Ein einzigartiger Teil in diesem unfaßbaren Netzwerk des Lebens.

»Dein Herz kennt den Weg, folge ihm.« (Rumi)

Autorin
Feryal Genç

Weitere Informationen
www.daowege.de

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