Über das Mysterium Selbsterkenntnis wird schon seit Urzeiten eruiert, diskutiert und philosophiert. Wer bin ich und wenn ja, wieviele? Wo komme ich her, wo gehe ich hin? Was ist der tiefere Sinn unseres Da-Seins? Auf der Suche nach der ultimativen Wahrheit über sich selbst haben sich schon viele Menschen in ihrem eigenen Gedankenlabyrinth verlaufen – ohne dabei glücklichere Menschen zu werden. Vielleicht sollten wir die Selbsterkenntnisfrage daher sehr viel praktischer stellen, nach dem Motto: Wie muß ich mich denn selbst sehen, damit Freude, Glück und Zufriedenheit in mein Leben kommen?
„Die Welt ist das, was wir über sie denken. Unsere Mitmenschen sind das, was wir über sie denken. Und wir selbst sind das, was wir über uns denken.“ Klingt das banal? Oder gar fatalistisch? Mag sein! Und doch liegt darin der wahre Schlüssel zur Selbstbefreiung!
Denn solange wir der Überzeugung sind, daß unsere Selbstwahrnehmung einer objektiven Wirklichkeit entspringt, sitzen wir in der Falle. Wir gehen dann davon aus, daß wir so „sind“, wie wir uns sehen. Und daß daran auch nichts zu ändern ist – außer wir tauchen ganz tief ein in unsere Lebensgeschichte und finden dabei mehr über uns selbst heraus: Vor allem die vielen Gründe, warum unser Leben bisher nicht wirklich gelungen ist.
Nicht wenige Selbsterkenntnissucher haben so viele Jahre in Seminaren oder auf der Psychologencouch verbracht und versucht, in psychoanalytischer Selbstbetrachtung die Erlösung zu finden. Die Erlösung von was? Von der Wahrheit über uns selbst? Oder von dem Bild, das wir von uns haben?
Uns geschieht nach unserem … Selbstbild
Glauben Sie, daß es eine objektive Wirklichkeit gibt? Daß Menschen eingeteilt sind in talentiert und untalentiert, erfolgreich und erfolglos, glücklich und unglücklich? Und daß folgerichtig die Menschen mit dem größten Potential die besten Chancen haben, glücklich und erfolgreich zu sein?
Wie viele Menschen kennen Sie, die talentiert, intelligent, gutaussehend und sympathisch sind – und doch nichts auf die Reihe bringen?
Und wie viele Menschen kennen Sie, die weder äußerlich noch in ihrer Art besonders viel hermachen und trotzdem an der Spitze stehen? Wie geht das? Widerspricht das nicht jeglicher Logik?
Zuallererst einmal sollten wir darüber nachdenken, ob unsere Vorstellung von den Lebensgesetzen tatsächlich noch zeitgemäß ist. Da hat man uns doch jahrhundertelang beigebracht, daß wir vor allem fleißig, demütig und brav sein müssen, um die Gunst des Himmels zu erlangen. Je besser angepaßt wir leben, hieß es, desto eher ist mit dem göttlichen Segen zu rechnen.
Können wir ganz sicher sein, daß diese Vorstellung der Wahrheit entspricht? Spätestens seit provokativer Buchtitel wie „Liebe dich selbst – dann ist es egal, mit wem du verheiratet bist“ oder „Brave Mädchen kommen in den Himmel, böse Mädchen kommen überall hin“ hat sich die Sicht auf das „Bravsein“ in unserer Gesellschaft verändert. Will der Schöpfer wirklich brave, angepaßte Schäflein? Oder ist er ein „Heiliger Freigeist“, der uns eine individuelle Entwicklung zugesteht und nach dem Motto agiert: Hilf dir selbst (sei stark!), dann bleibt auch der Segen nicht aus.
Wenn wir das tatsächliche Weltgeschehen betrachten, dann sehen wir vor allem eines: Nicht den Braven, Bescheidenen und Gottes-„Fürchtigen“ fließt im Leben die Fülle zu, sondern denen, die an sich selbst glauben. Unabhängig von ihren objektiven und angeblich genetisch vorgegebenen Möglichkeiten. Nicht umsonst heißt es in den meisten spirituellen Philosophien: Euch geschieht nach eurem Glauben. Doch wer kann wirklich „gläubig“ sein, wenn er an sich selbst zweifelt?
Die Macht des Selbstbildes
Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären in einer Familie geboren, die Ihnen vom ersten Tag ihres Lebens an vermittelt hätte: Du bist klasse! Du bist einzigartig! Du bist ein grandioses, unverwechselbares und gottgesegnetes Individuum, dem in seinem ganzen wunderbaren Leben alles zufließt! Die Welt ist nur dazu da, dich zu beglücken und mit seiner Fülle zu überschütten! Zweifle nie an dir selbst! Alles wird gut! Du bist der Architekt deines Schicksals!
Wie anders aber entwickelt sich unsere Sicht auf das Leben, wenn wir von Kind auf zu hören bekommen, daß Eigenlob stinkt, wir uns furchtbar anstrengen und im Schweiße unseres Angesichts unser Brot verdienen müssen? Daß es ohne Fleiß keinen Preis gibt und man im Leben nichts geschenkt bekommt! Daß aber aus uns eines Tages noch etwas werden kann – was folgerichtig bedeutet, daß wir jetzt noch „nichts“ sind!
Unser Selbstbild ist fast immer eine Folge unserer Erziehung. Und ein Mensch, der regelmäßig gelobt und von Herzen geliebt wird, entfaltet ein ganz anderes Selbstbewußtsein als der, dem man seine Individualität abspricht oder aberzieht.
Man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen und sich die Frage stellen, ob unser Selbstbild nicht deckungsgleich ist mit unserem Bild von der Welt. Denn wir alle projizieren unsere innere Einstellung nach außen, und das Leben antwortet uns entsprechend.
In einer mehrjährigen Seminarreihe haben wir einmal ein Experiment gemacht. Wir haben die Teilnehmer gefragt, wie sie sich den Schöpfer vorstellen. Und dann haben wir sie über ihren leiblichen Vater erzählen lassen. Und siehe da, die Bilder waren fast deckungsgleich.
Wer einen freundlichen, nachsichtigen Vater hatte, der stellte sich auch Gott entsprechend vor. Wessen Vater eher unberechenbar war, der glaubte an einen unberechenbaren Gott. Und wer ohne Vater aufgewachsen war, zweifelte meist an der Existenz einer höheren Macht.
Denken läßt sich ändern
Was wir über die Welt oder uns selbst denken, ist nichts, das uns in die Wiege gelegt wird. Es entsteht mit der Zeit, ist abhängig von der Familie, in der wir aufwachsen, von der Gesellschaft, in der wir leben, von Religion und Zeitgeist und von vielen weiteren Faktoren.
Unbestritten jedoch ist, daß unsere Gedanken und unser Selbstbild eine fundamentale Wirkung haben. Und mit dem Denken ist das ja so eine Sache. Unser Gedanken entstehen nicht etwa gewollt und sind immer zielgerichtet – sie geschehen einfach. Denn unser Verstand filtert permanent die unzähligen Eindrücke, die er von der Außenwelt empfängt. Und je nachdem, wie wir selbst eingestellt sind, „reproduziert“ er Optimistisches oder Pessimistisches, Trauriges oder Hoffnungsvolles. Er macht uns einfach Angebote, erzeugt Bilder – und wir entscheiden, ob wir diese für real halten und „glauben“ oder ob wir sie ablehnen.
Der Mensch denkt täglich (wissenschaftlich geschätzt) ca. 60.000 Gedanken. Und angeblich sind ca. 97 % dieselben wie gestern. Das heißt, wenn wir unsere Gedankenwelt und unser daraus resultierendes Selbstbild ändern möchten, müssen wir unser Denken ändern.
Der bekannte „Positiv-Denker“ und Bestsellerautor Dr. Joseph Murphy formulierte es einst so: „Der erste Schritt auf dem Weg zu einem glücklicheren Leben ist die Korrektur unseres Gedankenlebens: Ändern Sie Ihr Denken, erkennen Sie, daß Ihre Gedanken und nicht die äußeren Umstände die Ursache sind – dann können Sie Ihr Schicksal verändern.“
Was so einfach klingt, hat leider einen Haken – das schon vielfach genannte Selbstbild. Denn Menschen, die nicht viel von sich selbst halten, neigen häufig dazu, sich positive Gedanken gar nicht zuzugestehen. Der Berufspessimismus in gerade im protestantischen Schwabenland lange eine Art „Tugend“ gewesen, obwohl er nicht wirklich glücklich macht.
Ich muß dabei immer an einen Nachbarn denken, den ich einmal auf einen Lotto-Jackpot ansprach, der seinerzeit bei 34 Millionen Euro lag. Seine Antwort war: „Da spiele ich nicht! Überlege doch, wie viel Steuern du bezahlen mußt, wenn du so viel gewinnst.“ Ja, das Selbstbild meines Nachbars gestand ihm eine solche Summe nicht zu.
Wir brauchen ein neues Selbstbild
Heute wird viel über den Störfaktor Mensch auf unserem Planeten diskutiert. Wir haben so manches Unschöne angerichtet, seit wir uns die Erde „untertan machen“ und gehen nicht gerade zimperlich miteinander um. So mancher Philosoph behauptet gar, ein paar Milliarden weniger Menschen könnten eine akkurate Lösung sein.
Kürzlich fiel mir jedoch das Buch „Der Mensch ist keine Plage“ von Professor Cees Buisman in die Hände. Anstatt die Menschen „abzuschaffen“, appelliert er für ein neues Selbstbild des Menschen, damit wir endlich vom Schädling zum Nützling werden. Denn es ist nicht die Zahl der Erdbewohner, die für unsere Probleme verantwortlich ist, sondern unser fehlendes Bewußtsein.
Ein erster Schritt könnte sein, über unser eigenes Selbstbild nachzudenken und freundlicher mit uns selbst umzugehen. Und auch dazu fällt mir wieder eine Anekdote ein: Als ich vor einigen Jahren so sehr an mir selbst zweifelte, daß mir das Leben nicht mehr lebenswert erschien, packte mich die Wut. Ich ging in den Wald und brüllte hinauf zu unserem Schöpfer:
„Herr, wenn Du mich nicht endlich so nimmst, wie ich bin, dann nimm mich hier raus! Es ist endgültig genug!“
Und eine Stimme antwortete: „Wer nimmt Dich nicht so, wie Du bist? Ich nehme und liebe alle Wesen so, wie sie sind … Liebst Du Dich auch?“
Wer nicht an seinem Selbstbild arbeitet, wird oft zum größten Sklaventreiber – vor allem für sich selbst!
Autor
Michael Hoppe