Bringen Sie sich und andere in Sicherheit!

Interview mit der Gesundheitsexpertin Christina Leser

von Michael Hoppe

Christina Leser ist seit 2006 Leiterin und Inhaberin des Casa Medica Gesundheitszentrums in Elztal-Dallau. Dort wird neben Anwendungen wie der Quellwasser-Dauerbrause und vegetarischer Heilernährung auch großen Wert auf die Bewußtseinsbildung gelegt. Vor allem die Funktionsweise unseres autonomen Nervensystems beschäftigt Christina Leser schon lange, ist dieses doch dafür verantwortlich, ob wir uns entspannt und in Sicherheit fühlen oder gestreßt und in einer Art Daueralarmzustand durchs Leben hetzen. Wie wir bewußt in diesen selbstregulierenden Prozeß eingreifen können, erklärt die Gesundheitsexpertin im NATURSCHECK-Interview.

Liebe Frau Leser, derzeit sind viele Menschen verunsichert. Durch Politik und Medien werden täglich neue potentielle Gefahren heraufbeschworen, was nicht unbedingt zur allgemeinen Entspannung beiträgt. Was geschieht in uns Menschen, wenn wir uns ständig bedroht fühlen?

Christina Leser: Im Alarmzustand kann ich nicht mehr klar denken. Denn der Alarmzustand ist ein Überlebensreflex! Früher ging man davon aus, daß unsere emotionalen Probleme in der Hauptsache von der Psyche kommen, heute weiß man, daß das autonome Nervensystem viel entscheidender ist.

Ein paar Zahlen vorab: Wir haben in unserem Gehirn bis zu 100 Milliarden Nervenzellen. Diese sind verknüpft mit 100 Billionen Synapsen. Das sind unvorstellbare Dimensionen. Und wenn man die Nervenbahnen aneinanderlegen würde, käme man auf 5,8 Millionen Kilometer. Das heißt, wir könnten mit den Nervenbahnen, die wir in uns tragen, 145 Mal die Erde umrunden.

Unser autonomes Nervensystem ist ein wahres Wunderwerk der Natur. Ob das Emotionen sind, ob das Gedanken sind, ob das Ideen sind, ob das Lernen ist, ob das die Verdauung ist, ob das der Schlaf ist, ob das die Hormonausschüttung ist, all diese Lebensaspekte werden vom autonomen Nervensystem gesteuert. Und darum ist es auch so wichtig, daß dieses System so funktioniert, wie wir es gerne haben möchten.

Das autonome Nervensystem hat eine riesengroße Aufgabe, nämlich unser Überleben zu sichern. Diese Aufgabe steht über allem anderen. All die Milliarden von Nervenzellen folgen in erster Linie dieser wichtigsten Mission! Alles andere, ob das jetzt Spaß, Freude, Unterhaltung oder auch Lernen ist, kommt erst an zweiter Stelle.

Um also auf Ihre Frage zurückzukommen: Was geschieht in uns Menschen, wenn wir uns ständig bedroht fühlen? Der Sympathikus schaltet auf Dauerfeuer, und wir wechseln permanent zwischen Kampf- und Fluchtreflex hin und her. Geht uns irgendwann die Luft aus, folgt der Totstellreflex, was gemeinhin dann zu Depression oder gar Burnout führt.

Können Sie ein bißchen mehr über die Funktionsweise des autonomen Nervensystems erzählen?

Christina Leser: Um es für mich selbst besser verständlich zu machen, habe ich die drei Hauptfiguren in diesem System als eine Art Cartoons gezeichnet: Den Sympathikus, den ventralen Vagus und den dorsalen Vagus.

Der Sympathikus hat die Aufgabe, unser Überleben zu sichern. Er ist wie eine innere Alarmanlage. Meldet er Gefahr, haben wir nur noch zwei Handlungsalternativen: Kampf oder Flucht. Alles andere wird ausgeschaltet. Das heißt: Ihr Körper reagiert, ohne daß Sie darüber nachdenken. In der Form, daß sofort Ihr Puls hochgeht, Ihre Atmung flacher wird, es werden Adrenalin und Kortisol ausgeschüttet, der Blutdruck steigt, der Verdauungstrakt hört auf zu arbeiten, und die Leber verwandelt Glykogen in Glucose. Um diese autonomen Prozesse auszulösen, reicht oft schon ein Geräusch in der Nacht oder der Gedanke an den Zahnarzt. Auch ein Ehestreit kann „Lebensgefahr“ signalisieren.

Der Gegenspieler des Sympathikus ist der ventrale Vagus. Die Aktivierung des ventralen Vagus ist Voraussetzung für die Fähigkeit zu Kommunikation und sozialem Kontakt. Zudem ist der ventrale Vagus dafür zuständig, uns wieder in Entspannung zu bringen und damit in Sicherheit. Sobald dies geschieht, harmonisieren sich auch die Prozesse in unserem Körper. Das Alarmsystem wird quasi heruntergefahren.

Der dorsale (hintere) Vagus ist der Dritte im Bunde. Wenn unser inneres System erkennt, daß weder Kampf noch Flucht eine Lösung bringen, dann wird der dorsale Vagus aktiviert und sagt: „Ich muß mich totstellen!“ Im Tierreich kann man das beobachten, da gibt es den „Totstellreflex“. Tiere stellen sich tot, da sie annehmen, dadurch ihr Überleben sichern zu können. Und tatsächlich gibt es Tiere wie etwa den Löwen, der keine toten Tiere frißt. Gazellen nutzen diesen Überlebenstrick. Ist der Löwe weg, stehen sie wieder auf und bringen sich in Sicherheit.

Zusammenfassend kann man also sagen: Sowohl Sympathikus als auch ventraler und dorsaler Vagus haben eine wichtige Funktion. Sie interagieren. Doch sollte immer der ventrale Vagus der Chef sein, da er für Verbundenheit und Geborgenheit zuständig ist. Die anderen beiden sollen anwesend sein: denn wenn Gefahr besteht, wollen wir, daß die Alarmanlage Sympathikus das signalisiert. Und der dorsale Vagus soll dabei sein, um uns dann, wenn wir uns überlastet haben, zum Ausruhen zu zwingen.

Heute lauern ja Todesgefahren nicht mehr an jeder Ecke. Dennoch reagieren wir bisweilen schon auf kleinste Konflikte, als ginge es um Leben und Tod. Warum ist das so?

Christina Leser: Die innere Alarmanlage ist 24 Stunden am Tag eingeschaltet: sie überprüft über unsere fünf Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen) permanent, ob Gefahr droht oder ob wir in Sicherheit sind. Das ist aber ein uraltes System, das unsere heutigen Lebensumstände und Belastungen oft falsch bewertet und damit Fehlalarme auslöst.

So wird bei manchem schon der Besuch beim Zahnarzt als Lebensgefahr eingestuft. Die hohen Frequenzen des Bohrers und auch die „ungeschützte Haltung“ auf dem Behandlungsstuhl mit einem Arzt, der sich über uns beugt, kann vom Sympathikus als Bedrohung bewertet werden.

Die Alarmschwelle liegt bei einem ängstlichen, sorgenvollen Menschen sicher niedriger als bei einem Menschen, der seine Umwelt bewußt wahrnimmt und einen kühlen Kopf bewahrt. Wer gestreßt und überfordert ist, läuft Gefahr, überzureagieren, was wieder das gesamte Überlebensprogramm in Gang setzt. Zudem gibt es Belastungen wie Krankheiten oder Traumata, die einen Daueralarm auslösen, aus dem man oft nicht mehr herauskommt. Das kostet sehr viel Energie. Der ventrale Vagus kommt nicht mehr zum Zug!

Dieses Wahrnehmen und Einordnen in Gefahr oder Sicherheit nennt man auch Neurozeption. Zwischen dem äußeren Reiz, also einer optischen Wahrnehmung, einem Geräusch, einem Geruch, etc. und der Reaktion darauf haben wir eine kurze Zeitspanne, um zu entscheiden, wie wir reagieren werden. Wir haben also die Freiheit, zu entscheiden!

Doch nur, wenn der ventrale Vagus auf dem Chefsessel sitzt. Sitzt dort der Sympathikus, dann reagieren wir automatisch zwischen Kampf und Flucht. Da haben wir keine anderen Möglichkeiten. Wir sollten also lernen, richtig und angemessen auf äußere Reize zu reagieren. Dann können wir auch unsere Ressourcen aktivieren und nutzen. Wir handeln bewußt!

Sicher hat jeder schon Situationen erlebt, bei denen die eigene Reaktion sich im Nachhinein als völlig überzogen herausstellt hat. Viel Lärm um Nichts, könnte man sagen. Wie aber lernt man, in solchen Streßsituationen gelassen zu bleiben?

Christina Leser: Zuerst einmal ist es wichtig zu verstehen, wie und warum unser autonomes Nervensystem so reagiert, wie es reagiert. Es erfüllt ja eine wichtige Aufgabe: unser Überleben zu gewährleisten und uns in Sicherheit zu bringen. Wo aber finden wir Sicherheit?

Schauen wir auf unseren Lebenslauf: Wir kommen auf die Welt und sind nicht alleine lebensfähig. Wir brauchen jemanden, der sich um uns kümmert. Wir wollen verbunden sein mit anderen. Wir wollen versorgt werden. Das ist das, was wir uns wünschen. Und das geht nicht nur uns Menschen so, das kann auch zwischen Mensch und Tier der Fall sein. Oder zwischen Tieren untereinander. Alle sehnen sich nach Sicherheit und Geborgenheit.

Wenn wir unter Druck stehen oder gestreßt sind, findet eine Art Trennung statt. Wir fallen aus unserer Mitte und switchen unbewußt zwischen unterschiedlichen Zuständen hin und her. Hält dieses Getrenntsein zu lange an, benötigen wir Hilfe.

Um den Betroffenen aus dem Daueralarm herauszubringen und den ventralen Vagus zu stärken, nutzen wir in der Casa Medica neben einigen einfachen Techniken der Selbststeuerung auch die Audiovisuelle Wahrnehmungsförderung, kurz AVWF. Diese übermittelt dem System durch bestimmte Schallwellen und Frequenzen die Botschaft: Du bist in Sicherheit! Du kannst dich entspannen! Alles ist gut!

Mit diesem „Reset“ durch die AVWF-Therapie nach Traumata, bei Burnout und anderen Streßbelastungen, wie z.B. durch Krankheit haben wir seit Jahren sehr gute Erfahrungen gemacht. Es geht im Grunde immer darum, uns in Sicherheit zu bringen. Durch Corona ist das Thema Sicherheit für ganz viele Menschen weggebrochen. Überall blinken „Alarmmeldungen“, und viele Menschen sind deshalb seit Monaten im Daueralarmzustand…

Das kann ich nur bestätigen. Daher die Frage aller Fragen: Was kann der Einzelne tun, um zukünftig nicht mehr unnötig in die Sympathikus-Falle zu tappen?

Christina Leser: Es gibt viele Möglichkeiten, Neurorezeption zu trainieren, also die Art der eigenen Reaktion bewußt zu beeinflussen. Man kann sich z.B. in einer Streßsituation die Fragen stellen: Bin ich gerade wirklich in Lebensgefahr? Was kann denn schlimmstenfalls passieren?

Zudem sollte man auf die eigene Haltung achten: Gebeugte Haltung oder Rundrücken symbolisieren Gefahr. Also gilt es, sich aufzurichten. Aufrechte Haltung bedeutet: Ventraler Vagus ist der Chef!

Auch Lächeln und Lachen werden noch immer unterschätzt. Lächeln gibt dem autonomen Nervensystem das Signal: Alles in Ordnung! Sicherheit! Nicht umsonst wird Lachyoga immer beliebter! Lachen ist gesund! Singen bewirkt dasselbe. Beide melden an den Sympathikus: Keine Gefahr!

Und natürlich unsere Atmung: Wenn Sie merken, Sie regen sich über irgendetwas auf – nehmen Sie sich kurz heraus, atmen Sie einige Male länger aus als ein. Und der Sympathikus beruhigt sich.

Was mir sehr gut gefällt an diesem Wissen von Alarmzustand und Sicherheit ist, was ich durch dieses Wissen alles vermeiden kann. Wenn ich merke, jemand reagiert mit Kampf und Flucht, kann ich bewußt agieren, anstatt ebenfalls in Kampf und Flucht zu gehen. Wenn uns dieser Dreiklang aus Sympathikus, ventralem Vagus und dorsalem Vagus bewußt ist, können wir sehr viel Streit und Streß vermeiden und die Energie, die wir dadurch sparen, für schöne und aufbauende Dinge einsetzen. Darum mein Wunsch: Bringen Sie sich und andere in Sicherheit!

Liebe Frau Leser, herzlichen Dank für dieses hochinteressante und lehrreiche Gespräch.

Das Interview führte
Michael Hoppe

Weitere Informationen
www.casamedica.de

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