Prof. Dr. Kreiß hat Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte studiert, war sieben Jahre lang Investment-Banker und unterrichtet seit 2002 an der Hochschule Aalen. Bereits bei seinem Studium erschienen ihm unsere aktuellen Wirtschaftsregeln unlogisch – führen sie doch unweigerlich zu dem, was wir heute überall sehen: Ungleichheit, Konkurrenzkampf und letztlich immer wiederkehrende Krisen. In seinen Sachbüchern „Profitwahn“, „Gekaufte Forschung“ oder „Werbung, nein danke“ kritisiert er die Prämissen der neoliberalen Wirtschaftstheorie. Im 2019 erschienenen Buch „Das Mephisto-Prinzip“ hinterfragt er, warum die vielen, angeblich gutgemeinten wirtschaftlichen Vorsätze selten zum Guten führen.
Lieber Professor Kreiß, zuerst einmal herzlichen Dank dafür, daß Sie so kurzfristig für ein Interview zur Verfügung stehen. Bei der Fülle Ihrer Themen weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll – denn sie sprechen mir alle aus der Seele. Beginnen wir mit Ihrem letzten Buch „Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft“. Hier vertreten Sie die „hypothetische“, aber bemerkenswerte These: Wenn Mephisto die Grundlagen für unsere heutige Wirtschaft gelegt hätte, wären diese genau so, wie sie jetzt sind. Hat der Teufel unser Geld- und Wirtschaftssystem erschaffen?
Prof. Dr. Christian Kreiß: Ganz überspitzt gesagt: Ja! (lacht) Aber ich formuliere das ja positiv. Quasi aus der Sicht eines „Advocatus Diaboli“, der bewußt die Position seines Gegners einnimmt und die Frage durch die Brille des Widersachers stellt: Was wäre wenn? Lassen Sie uns also bei dieser hypothetischen Frage bleiben: Was wäre, wenn eine negative Kraft dieses Wirtschaftssystem gestalten würde? Was würde da herauskommen?
Und da kam ich tatsächlich zu dem Ergebnis, daß ich vieles sehr viel besser erkennen konnte als zuvor. Denn obwohl überall anscheinend mit gutem Willen gehandelt wird, sind sehr viele Konsequenzen schädlich, ungesund, machen abhängig und unfrei – was man sich mit „gutem Willen“ schier nicht erklären kann.
Nach dem sprichwörtlichen Motto: Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit „guten“ Vorsätzen?
Prof. Dr. Christian Kreiß: (lacht) Sagen wir es einmal so: Alle Politiker sagen, sie wollen das Beste für uns. Die Unternehmen sagen, sie wollen das Beste für uns. Die Pharmaindustrie sagt, sie wolle das Beste für uns. Die Werbung sagt, sie wolle das Beste für uns … Was dann aber dabei herauskommt, sind z.B. überernährte Kinder, Kinder, die zu viel Medien konsumieren, Abhängigkeiten, Krankheiten aller Art oder sogar Kriege und anderes Elend.
So daß ich mich frage: Wie paßt denn all das zusammen? Und so habe ich das einmal umgedreht und die – wie gesagt – hypothetische Frage gestellt: Was wäre, wenn man das Schlechte für die Menschen wollen würde? Wenn also ein Mephisto zu entscheiden hätte, wie das große Spiel läuft.
Und da ich ursprünglich von Greenpeace komme und mir die Welt betrachte mit einer Milliarde Hungernden, der Vermüllung der Ozeane, der Schere zwischen Arm und Reich, der immer größeren Ungleichheit, der Macht der Großkonzerne, die nun auch in Corona-Zeiten die ganz großen Profiteure sind etc., sehe ich das „Mephisto-Prinzip“ lebendig vor mir…
Das paßt ja zu der Erkenntnis von Johann Wolfgang von Goethe, der nach einem langen Leben als Dichter, Künstler, Politiker und sogar Finanzminister zur Erkenntnis kommt, daß es keine heile Welt geben kann – solange Mephistopheles in alles eingreift. Doch wer ist Mephisto, und wie werden wir ihn los?
Prof. Dr. Christian Kreiß: Das ist natürlich ein heikles Thema. Für die einen ist der „Geist, der stets verneint“ das kleine Ego in uns oder das niedere Selbst. Andere sprechen auch vom Dunkel oder vom luziferischen Prinzip. Ich habe mich viel mit den Büchern von Rudolf Steiner auseinandergesetzt, die ja eine spirituelle Sicht vertreten. Dort werden auch die negativen Kräfte als real existierend beschrieben. Ebenso real wie wir Menschen. Darüber könnte man natürlich philosophieren. Was wir in der Realität sehen, ist die Wirkung dieser Prinzipien.
Entscheidend ist, was der Mensch aus diesen Polaritäten „Gut und Böse“ macht. Entwickelt er sich weiter und strebt – wie es Friedrich Schiller in seinem Gedicht „Die Worte des Glaubens“ beschreibt – nach innerer Freiheit, nach Tugend und Nächstenliebe, und folgt einer höheren, göttlichen Ordnung. Oder gibt er sich mit der „Mephisto-Welt“ zufrieden.
Für mich ist das heutige Geschehen eine Art (End-)Kampf zwischen Spiritualität und Materialismus. Das spüren immer mehr Menschen. Und viele sind auf der Suche nach dem „wahren Christentum“, also nach einem Lebensmodell, das uns zu mehr Kreativität, Freiheit, Schönheit und Nächstenliebe führt. Die Kirchen können dieser Sehnsucht derzeit nicht gerecht werden, obwohl es auch in Kirchenkreisen sehr große Geister gab und gibt, die dieses Neue exemplarisch vorgelebt haben.
Um nochmal ganz praktisch auf Ihr Buch „Das Mephisto-Prinzip“ einzugehen. Sie beschreiben dort sieben Axiome, die auf den ersten Blick vernünftig erscheinen, aber schädliche Folgen haben. Welche sind das?
Prof. Dr. Christian Kreiß: In Kurzform: Unser derzeitiges System fördert das ewige Wachstum und damit die Unersättlichkeit. Es hält Zinseszins für gut, richtig und wichtig, erlaubt Eigentum in beliebiger Höhe, behauptet, Unternehmen sollen ihre Gewinne maximieren, den Konsum maximieren, miteinander in permanenter Konkurrenz sein – und die „unsichtbare Hand des Marktes“ überführe das eigennützige Verhalten der Marktteilnehmer in das Wohl der Allgemeinheit. Der Egoismus steht also im Mittelpunkt.
Für viele Ökonomen ist diese Sichtweise Normalität. Aber immer mehr Menschen erwachen und merken: da stimmt etwas nicht. Obwohl es genau so an den Universitäten gelehrt wird.
Wie müßte dann eine humanere, „mephistofreie“ Wirtschaft aussehen?
Prof. Dr. Christian Kreiß: Das versuche ich im Schlußteil des Mephisto-Buches zu skizzieren: es ist das Positivste, was ich in meinem Leben geschrieben habe. Nur ein paar wenige Anmerkungen: Wir könnten schon längst die 20-Stunden-Woche haben, ohne auf irgendwelche Produkte und Dienstleistungen verzichten zu müssen, einfach nur, wenn wir die vielen Ineffizienzen und unsinnigen Tätigkeiten einstellen würden. Geld und Produkte sind bei weitem genug für alle da, auch für Geringverdienende.
Machtstrukturen und Streßerzeugung innerhalb der Unternehmen können dramatisch verringert und ein wirklich menschlicher Führungsstil eingeführt werden. Dadurch werden die Unternehmen sogar noch wettbewerbsfähiger.
Die Wohneigentumsquote kann deutlich steigen. Wir haben in Deutschland eine der niedrigsten Eigenheimquoten aller Industrieländer. Das könnten wir sehr leicht ändern.
Die Städte können sehr viel grüner, lichter und hübscher werden, mit vielen Parks und Spielplätzen. Statt Verdichten können wir die Städte auflockern und lebenswerter machen. Außerdem kann die Architektur viel schöner werden, wie sie auch schon einmal war, z.B. in der Zeit der vielen hübschen Fachwerkhäuser. Schöne Architektur können wir uns heute viel mehr leisten als damals, wenn wir nur wollen.
Die Ernährung könnte sehr viel gesünder werden. Wir haben bei uns eine Lebensmittelfülle wie noch nie in der Geschichte. Pestizide usw. brauchen wir nicht, ebensowenig wie die vielen Additive in Form von Geschmacksverstärkern oder Farbstoffen. Diese ganzen Chemiecocktails nehmen wir einfach aus unseren Lebensmitteln raus, wie es heute schon bei Bio-Produkten der Fall ist – nichts einfacher als das!
Außerdem brauchen wir praktisch die ganze kommerzielle Werbung nicht mehr, die uns nur strukturell fehlinformiert. Die Presse könnte wirklich frei sein, ebenso die Wissenschaft. Die Schulen könnte den Kindern wieder Spaß machen, wenn wir ein freies Schulsystem einführen und das Staatsschulsystem auflösen. Das kulturelle und soziale Leben kann aufblühen, und in der Politik können wir das Parteienmonopol und den Fraktionszwang abschaffen und stattdessen tatsächlich gute und tiefe Demokratie praktizieren.
Das klingt wie eine erstrebenswerte und sicher auch nicht unmögliche Vision. Doch wie können wir diese umsetzen?
Prof. Dr. Christian Kreiß: Dazu müßten wir langfristig Egoismus und Konkurrenzdenken abbauen. Als erstes bräuchten wir daher ein freies Schulsystem, das auf Gutscheinen aufbaut und wo alle Eltern die besten Schulen für ihre Kinder wählen können. In freien Schulen, beispielsweise Waldorf- oder Montessorischulen, geht es wirklich um die Kinder und ihre Anlagen – und nicht darum, dressierte Äffchen zu erzeugen. Dort gibt es mehr Miteinander, weniger Konkurrenz und langfristig weniger Egoismus.
Auf dem Gebiet der Ökonomie bräuchten wir die heute gängigen weltanschaulichen Grundaxiome eigentlich nur genau in ihr Gegenteil zu verwandeln (!), dann kommen wir ziemlich schnell zu einer gutartigen Wirtschaftsordnung. Es gäbe natürlich noch Dutzende von anderen Baustellen. Aber das wäre alles machbar, wenn der gute Wille und weniger Egoismus vorhanden wären.
Was denken Sie: Schaffen wir diesen historischen Wandel? Und wie leben wir in 30 Jahren? Werden wir zum Augenblicke sagen: „Verweile doch, du bist so schön“? Oder wird Mephisto weiter den Ton angeben?
Prof. Dr. Christian Kreiß: Wir könnten sehr viel besser leben als heute – allerdings nur, wenn wir unsere Machtstrukturen angehen, die die allermeisten Reformen zum Guten verhindern wollen. Ich fürchte, daß das nicht leicht wird. Wenn wir an unseren heutigen Strukturen nichts ändern und einfach so weitermachen wie in den letzten 40 Jahren, werden wir 2050 sehr viel schlechter leben als heute – sowohl was unsere Freiheit, als auch was allgemeinen Wohlstand und Demokratie anlangt.
Dann, fürchte ich, wird sich Mephisto die Hände reiben. Der Schlüssel für die Veränderung wäre, ein anderes, ein umfassenderes Bewußtsein zu entwickeln. Wir brauchen Spiritualität! Der reine Materialismus wird uns in den Abgrund treiben. Dann hätten wir wohl heute, 2020, oder vielleicht noch eher 2019 zum Augenblick sagen sollen: „Verweile doch, du bist so schön“.
Lieber Professor Kreiß, ob die vollkommene Erdenwelt wirklich irgendwann kommt, steht sicher in den Sternen. Aber um bei Goethes Faust zu bleiben: Wenn wir uns nicht für eine solche einsetzen, haben wir die Quintessenz des „Faust“ nicht verstanden. Endet dieser doch mit den „Engelsworten“: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Und das Endziel unseres Daseins ist ja nicht das irdische Paradies, sondern die geistige Heimat. Ganz herzlichen Dank für das inspirierende Gespräch.
Das Interview führte
Michael Hoppe
Weitere Informationen
www.menschengerechtewirtschaft.de