Die Welt der Wünsche – Oder: warum Odysseus seine Heimat nicht mehr fand

von Michael Hoppe

Wir leben in einer Welt der Wünsche. Wir wünschen uns Reichtum, Schönheit, Karriere und Erfolg. Und wir tun vieles, um uns diese Wünsche erfüllen zu können. Noch niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit gab es so viele erfolgreiche Menschen, und noch niemals zuvor wurden so viele Wünsche erfüllt. Doch trotz aller Erfolge sind nur die wenigsten Menschen wirklich glücklich. Woran liegt das? In der griechischen Mythologie zeigt sich uns ein seltsames Bild: dort sind die Erfolgreichsten, die Stärksten, die Schönsten und die Begabtesten zugleich auch die bekanntesten Tragödiengestalten.

Wer kennt sie nicht, die alte Geschichte? Die schöne Helena, Ehefrau des griechischen Fürsten Menelaos, verliebt sich in den trojanischen Prinzen Pares und flieht mit ihm nach Troja. Die Griechen schwören Rache. Sie sammeln ihre größten Helden und ziehen gegen Troja in den Krieg. Da die Trojaner jedoch ebenso große Helden sind und ihre Stadt zudem von einer unüberwindlichen Mauer umgeben ist, gelingt keiner Seite der Sieg. Nach unzähligen Schlachten und zehnjähriger Besatzung ist noch immer kein Ende in Sicht…

Und das wäre wohl auch so geblieben, wäre da nicht Odysseus gewesen. Der König von Ithaka hat diesen Krieg nie gewollt. Sein sehnlichster Wunsch ist die Rückkehr in seine geliebte Heimat und das Wiedersehen mit seiner Frau Penelope und seinem Sohn Telemachos. Er bittet die Götter um Hilfe, und Poseidon, der Gott der Meere, gibt ihm eine geniale Idee ein. Davon inspiriert, läßt Odysseus ein überdimensionales Holzpferd bauen, in dem sich einige Krieger verbergen. Die Trojaner fallen auf die List herein, ziehen das Pferd in die Stadt, und die griechischen Krieger öffnen in der Nacht die Stadttore. Troja fällt, und der Krieg ist zuende.

Odysseus ist der Mann der Stunde. Seinem Wunsch nach Rückkehr steht nun nichts mehr im Wege. Wer nun aber glaubt, die Geschichte habe hier ihr »happy end«, der irrt. Denn Odysseus steigt der Erfolg zu Kopf. Obwohl ihm sein Wunsch erfüllt wurde, weigert er sich, Poseidon zu danken. Ein neuer Wunsch ist in ihm gewachsen: Er möchte als Held aller Helden und Bezwinger Trojas in die Geschichte eingehen. Deshalb kommt er zu der Überzeugung, daß er den Erfolg nicht der Gunst der Götter, sondern nur seiner eigenen überragenden Klugheit zu verdanken habe. Er beleidigt damit Poseidon, und sein Schicksal nimmt seinen Lauf.

Tragödien

Tragödien beginnen immer auf dieselbe Weise. Wir wünschen uns etwas. Wir tun alles dafür, daß der Wunsch Wirklichkeit wird. Wir bitten die Götter um Hilfe und fallen demütig vor ihnen auf die Knie. Und wenn wir »erhört werden« und der Wunsch sich tatsächlich erfüllt, geschieht etwas in uns: Wir kommen an eine Art Weggabelung. Denn mit jedem Erfolg, mit jedem erfüllten Wunsch wächst unser Selbstvertrauen und damit auch die Überzeugung von unseren eigenen Fähigkeiten. Und wir stehen vor der Entscheidung, dem Schicksal für seine Großzügigkeit zu danken oder aber uns auf die eigene stolzgeschwellte Brust zu schlagen und zu rufen: »Seht alle her, ich bin der König der Welt!«

Welche grotesken Formen dies bisweilen annehmen kann, zeigt der kollektive Größenwahn derer, denen das Volk zujubelt, da sie es in Sachen Erfolg besonders weit gebracht haben. In diesen Erfolgsgeschichten wird die sprichwörtliche Verbindung aus Genie und Wahnsinn sichtbar. Denn gerade dort, wo Begabung, Talent und das Wissen um die Erfolgsgesetze des Lebens am meisten ausgeprägt vorhanden sind, ist die Versuchung am größten, sich im eigenen Erfolg zu sonnen und dadurch das wahre Licht aus den Augen zu verlieren. 

Tragische Erfolgsgeschichten 

Die griechische Mythologie berichtet über eine ganze Reihe solcher Charaktere: Die schöne Helena, der die ihr von den Göttern geschenkte Schönheit zum Verhängnis wurde. Der starke Herakles, der an den Folgen dessen, was seine Kräfte bewirkten, zerbrach. Der mutige »Fliegerpionier« Ikaros, dessen Übermut ihn so hoch hinauftrieb, daß er irgendwann der Sonne zu nahe kam und ins Verderben stürzte. Und nicht zuletzt der listige Odysseus, der so klug war, daß er irgendwann glaubte, die Quelle aller Weisheit in sich selbst zu tragen.

In den tragischen Erfolgsgeschichten dieser größten aller Helden steckt eine tiefe Weisheit. Im Kerne ist es die Erkenntnis, daß Begabung und Erfolg uns in zwei Richtungen führen können: Sie können uns demütig und dankbar machen für die Gnade der Götter, oder eben eitel und dumm. Geschieht letzteres, dann wächst mit der Dummheit auch die Zahl unserer Wünsche. Denn je kleiner die Bescheidenheit, desto größer der Anspruch.

Die Macht der Wünsche 

Wünsche sind etwas Seltsames. Sie kommen von irgendwoher, machen sich in uns breit und füllen unser ganzes Bewußtsein aus. Sie sind in der Lage, uns zu Höchstleistungen anzuspornen. Bisweilen werden sie gar zu unserem Fenster hinaus in die Welt. Wie nehmen das, was uns umgibt, nur noch im Lichte unserer Wünsche wahr. Die Welt wird zum Laboratorium unserer Wunscherfüllungsexperimente. Alles andere verliert an Bedeutung. Wird der Wunsch nicht erfüllt, so leiden wir. Wir werden unglücklich, empfinden das Leben als ungerecht und beschimpfen die Götter ob ihrer Unnachgiebigkeit. Wohl stellen sich viele Wünsche im Nachhinein als unsinnig heraus, und doch bestimmen sie unser Befinden.

Die Erfolgsliteratur zeigt uns viele Wege, wie wir die Erfüllung unserer Wünsche beschleunigen können: Indem wir gedankliche Bestellscheine ans Universum schicken, durch positives Denken die Schicksalskanäle öffnen, visualisieren, affirmieren und viele andere Techniken mehr. Natürlich können wir auch mit unlauteren Methoden nachhelfen. Bei manchen gilt ja die Regel, daß der Zweck die Mittel heiligt und für die ganz besonders wichtigen Wünsche so gut wie jedes Mittel recht ist.

Ist der Wunsch dann tatsächlich erfüllt, erleben wir Zufriedenheit. Das erfolgreiche Gelingen unseres Wunscherfüllungsexperiments macht uns glücklich. Zumeist hält dieser Zustand jedoch nicht sehr lange an, so daß wir uns bald neue Wünsche suchen, die wir uns erfüllen können.

Vereinfacht ausgedrückt, ist unser gesamtes heutiges Finanz- und Wirtschaftssystem eine materiegewordene Welt der globalen Wunscherfüllung. Über das Notwendige hinaus wird allerlei produziert, was sich Menschen wünschen. Wissen sie noch nichts von ihren Wünschen, so werden durch die Werbung Wünsche künstlich erzeugt. Auf der anderen Seite wünscht sich der Hersteller dadurch einen Ertrag, um sich eigene Wünsche erfüllen zu können.

Unser Weltbild ist eine Symbiose aus Wunschvorstellungen und der Erschaffung von Systemen, diese Wünsche in die Tat umzusetzen. Selbst unsere Religionen und Philosophien tragen sehr viel Wunschdenken in sich. Der Wunsch aktiviert eine treibende Kraft, die dem Handeln vorausgeht. Er bestimmt unser Denken, und er gibt unserem Leben die Richtung. 

Noch niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit waren so viele Wünsche tatsächlich erfüllbar wie heute. Und noch niemals zuvor wurden so viele Wünsche erfüllt. Die Frage sei hier erlaubt, warum die Menschen dann so unglücklich sind?

Die Illusion der Wünsche 

Wünsche sind zumeist auf »Vergängliches« gerichtet. Und zudem schrumpft mit jedem erfüllten Wunsch die Halbwertszeit der Zufriedenheit. Gleichzeitig steigt mit jedem Gelingen die Zahl der unbegrenzten Möglichkeiten. Bishin zur Versuchung, sich immer mehr Dinge zu wünschen, die weder gut für uns selbst noch für andere sind.

Der immer mehr um sich greifende Machbarkeitswahn der Jetztzeit ist die logische Konsequenz unseres »Wunschdenkens«. Wobei es längst nicht mehr darum geht, weise Entscheidungen zu treffen, um die Welt zu veredeln und uns gegenseitig in unserer Entwicklung zu fördern, sondern oft nur noch darum, Dinge zu tun, weil sie möglich sind. Je ausgefallener, desto besser. Je sinnloser, desto attraktiver. Hauptsache, es gibt etwas Neues, das man sich wünschen kann. 

Das »immer schneller, immer höher, immer weiter« und die Illusion vom ewigen Wachstum gehen mit dieser Philosophie einher. Die Maßlosigkeit und als Folge die immer größere Unzufriedenheit, oder besser Unbefriedbarkeit, pflanzen sich unaufhörlich fort. Immer scheint es etwas zu geben, das wir uns noch nicht gewünscht haben. Irgendwo schlummert immer ein verborgener Schatz, den es unbedingt noch zu heben gilt. Auch wenn wir dafür die besten Jahre des Lebens opfern und in lichtlosen Höhlen dahinvegetieren. Der Wunsch schreit nach Erfüllung. 

Wünsche entwickeln immer eine Art Eigendynamik und werden irgendwann zur Hydra. Mit jedem abgeschlagenen Kopf wachsen mehrere neue Köpfe nach. Die Unersättlichkeit und die Gier nach immer neuen Wunscherfüllungen rauben uns den inneren Frieden. Bis wir uns letztlich Dinge wünschen, die außerhalb unserer Möglichkeiten liegen. Oder katastrophale Folgen haben. Die Tragödie ist damit vorprogrammiert.

Die Welt der Wünsche

Aktuelle Erhebungen belegen, daß wir global in vielen Bereichen des Lebens einen kritischen Punkt erreicht haben. Sei es, was die Bevölkerungszahl der Erde angeht, die Ausbeutung der Natur, das Verschwinden der Arten, die Gefahren unserer modernen Konsumgesellschaft und vieles andere mehr. Würden alle Menschen der Erde ökonomisch und ökologisch so leben wollen wie wir – so das Ergebnis –, müßte die Erde um ein Vielfaches größer sein, als sie ist. Unser Planet ist für die kollektive Wunscherfüllung aller nicht groß genug. Solange es sich um materielle Wünsche handelt!

Bezogen auf unseren tragischen Helden Odysseus könnte man sich die Frage stellen, ob unsere heutige Weltsicht nicht einer grundlegenden Änderung bedarf. Wohl wird es immer unser Bestreben bleiben, uns zu verwirklichen, neue Ideen zu entwickeln und diese, wenn möglich, auch in die Tat umzusetzen. Und doch fehlt im großen Erfolgs- und Wunscherfüllungskarussell ein wichtiger Punkt: Die »Ethik des Wünschens« ist uns verlorengegangen. Dabei gibt es sie. 

Diese »Bedienungsanleitung für tragödienfreies Wünschen« zieht sich als roter Faden durch alle Philosophien und Weltreligionen. Auch in der griechischen Mythologie spielt sie eine herausragende Rolle. Aus jedem Gleichnis spricht der Wunsch der Götter, der Mensch möge seine realitätgewordene Wünsche-Odyssee beenden und aus dem Nebel herausfinden. Und sich statt sinnloser Wünsche sinnvolle Ziele suchen…

Sind wir nicht alle ein bißchen Odysseus?

Der unserem heutigen Lebenssystem innewohnende Erfolgsdruck drängt uns immer wieder, uns Dinge zu wünschen, die uns im tiefsten Innersten gar nicht wirklich wichtig sind. Wir wünschen sie uns dennoch, weil das im Leben so dazugehört. Weil es uns von außen suggeriert wird. Weil wir uns an anderen Menschen messen. Weil wir glauben, der Sinn des Lebens bestünde aus immer neuen und immer schwerer zu verwirklichenden Wunscherfüllungen.

Doch stimmt das wirklich? Müssen wir tatsächlich immer weiter wachsen, immer höher steigen und immer erfolgreicher werden, um glücklich zu sein? Müssen wir beständig neue Mauern durchbrechen, neue Welten erobern und nach immer neuen Illusionen suchen, ohne doch jemals anzukommen? Oder sind dies nur die Begleiterscheinungen unserer Odyssee, die an dem Tag begann, als wir uns entschlossen, immer etwas anderes zu wollen als das, was wir bereits haben? Als wir zu Glücksrittern wurden, ständig auf der Suche, dauernd unterwegs und damit beschäftigt, uns auf ein Leben vorzubereiten, das nie stattfindet?

Ruhelos und immer unter Strom hetzen wir durch ein Labyrinth ohne Ausgang und versuchen, etwas Unmögliches zu vollbringen: nämlich durch die Erfüllung unserer Wünsche Glück und inneren Frieden zu finden. Eine Tragödie ohne Ende, da mit jeder Wunscherfüllung die Entstehung neuer Wünsche verbunden ist. Wen wundert’s, daß wir nicht glücklich sind? 

Der Wunsch der Götter

Auch der gute Odysseus ist in diese Falle gegangen. Statt mit dem, was er hatte, zufrieden zu sein und den Göttern dafür zu danken, wünschte er sich mehr, als ihm zustand. Er erhob sich über die Götter. Die Folge war seine berühmte Odyssee, die von großem Leid, Verlust und Heimatlosigkeit begleitet war. Als er schließlich nach vielen Jahren wieder zu Hause ankam, erkannte ihn nur noch der alte Hausdiener. Seine Frau erkannte ihn nicht. So sehr hatte seine Odyssee ihn verändert.

Ob sie einen demütigeren und damit zufriedeneren Menschen aus ihm gemacht hat, das wissen wir nicht. Manche Schriften behaupten, er habe aus den Erfahrungen gelernt, seine Frau zurückerobert und glücklich auf seiner Insel Ithaka gelebt bis ans Ende seiner Tage. Andere Schriften wiederum erzählen das Gegenteil. Sein ruheloser Geist habe neue Wünsche in ihm geweckt und ihn bald wieder hinausgetrieben in die Welt, neuen schicksalhaften Abenteuern entgegen. So ist er uns als Tragödiengestalt erhalten geblieben.

Für unser eigenes Schicksal bleibt zu hoffen, daß auch wir unsere Wünsche-Odyssee irgendwann beenden werden. Indem wir lernen, dankbarer und zufriedener zu sein mit dem, was wir bereits haben. Dazu jedoch gehört eine gewisse innere Größe. Und die Erkenntnis, daß wir im Außen niemals finden werden, was als Schatz in unserem Innersten schlummert!

Autor:
Michael Hoppe

Verlag für Natur und Mensch
NATURSCHECK Redaktion

© 2022  Verlag für Natur & Mensch | Impressum | Datenschutz