Marcus Aurelius und der Stoizismus

von Michael Hoppe

Mark Aurel (*121 – 180 n. Chr.), auch als Marcus Aurelius bekannt, war von 161 bis 180 n. Chr. römischer Kaiser und ein bedeutender Philosoph. Viele seiner Lebensweisheiten werden noch heute gerne zitiert. Als Vertreter des im antiken Griechenland entstandenen Stoizismus war Mark Aurel überzeugt, daß alles in der Schöpfung seine Ordnung hat und nichts zufällig geschieht. 

Als Princeps und Nachfolger seines Adoptivvaters Antoninus Pius nannte sich Mark Aurel selbst Marcus Aurelius Antoninus Augustus. Mit seiner Regierungszeit endete in mancherlei Hinsicht eine Phase innerer und äußerer Stabilität und Prosperität für das Römische Reich, die Ära der sogenannten Adoptivkaiser. Mark Aurel war der letzte von ihnen, denn in seinem Sohn Commodus stand ein leiblicher Erbe für die Herrscherfunktion bereit.

Innenpolitische Akzente setzte der bekennende Stoiker Mark Aurel in Gesetzgebung und Rechtsprechung bei der Erleichterung des Loses von Benachteiligten der damaligen römischen Gesellschaft, vor allem der Sklaven und Frauen. Außergewöhnlichen Herausforderungen hatte er sich hinsichtlich einer katastrophalen Tiberüberschwemmung zu stellen sowie in der Konfrontation mit der Antoninischen Pest und angesichts spontaner Christenverfolgungen innerhalb des Römischen Reiches. 

An den Reichsgrenzen mußte er nach einer längeren Friedenszeit wieder an mehreren Fronten gegen eindringende Feinde vorgehen. Insbesondere waren der Osten des Reiches durch die Parther, über die Mark Aurels Mitkaiser Lucius Verus triumphierte, und der Donauraum durch diverse Germanen-Stämme bedroht. Sein letztes Lebensjahrzehnt verbrachte Mark Aurel daher vorwiegend im Feldlager. Hier verfaßte er die »Selbstbetrachtungen«, die ihn der Nachwelt als Philosophenkaiser präsentieren und die mitunter zur Weltliteratur gezählt werden.

Die Stoa

Der Stoizismus hat seinen Ursprung im antiken Griechenland und erstreckt sich über fast sechs Jahrhunderte in drei distinkten Strömungen: der antiken, der mittleren und der jüngeren Stoa, wobei Seneca, Epiktet und Mark Aurel bedeutende Vertreter letzterer sind. Die einzigen vollständigen Werke des Stoizismus, die uns erhalten geblieben sind, entstammen der Zeit der jüngeren Stoa. In dieser umfangreichen philosophischen Strömung wird das Glück durch ein Negativ definiert: es besteht – ähnlich wie im Buddhismus – in der Ataraxie, das heißt in der Abwesenheit von Leiden der Seele, also der geistigen Ausgeglichenheit. Es handelt sich um eine eudämonistische Philosophie, die das Glück für das Ziel der menschlichen Existenz hält, und Besonnenheit für die Bedingung, um es zu erreichen. 

Welche Schicksalsschläge uns auch immer ereilen, der Stoizismus hilft uns, sie zu akzeptieren und zu überwinden. Er ist daher eine wirklich therapeutische Philosophie. Nie klagt ein Stoiker über sein Los oder läßt sein Herz über seinen Verstand siegen. Marc Aurels Lehrer Epiktet, ehemaliger Sklave und Stoiker, ist hierfür ein regelrechtes Musterbeispiel: Eines Tages vertrieb sich sein Herr die Zeit damit, ihm sein hinkendes Bein mit einem Folterinstrument zu verdrehen. Also warnte ihn der Philosoph in ruhigem Ton vor dem Risiko, ihm damit das Bein zu brechen – und es kam, wie es kommen mußte: das Bein brach. »Ich habe es Ihnen ja gesagt, daß Sie mir so das Bein brechen würden. Da haben Sie es, es ist gebrochen«, sprach Epiktet kühl nach dem Drama. Als Stoiker beunruhigte ihn sein Übel nicht. Ein Stoiker bleibt also unter allen Umständen gelassen, egal, ob seine Verletzung seelischer oder körperlicher Natur ist. 

Die stoische Ethik hält sich an einfache Prinzipien, die auch heute nichts von ihrer Bedeutung verloren haben. Epiktet meinte, daß es wichtig sei, zwischen dem, was wir beeinflussen können und dem, was wir nicht beeinflussen können, zu unterscheiden: »Was wir beeinflussen können, das sind unsere Auffassungen, unser Verlangen, unsere Abneigungen – also Akte unseres Geistes. Was wir nicht beeinflussen können, das ist unser Körper, unsere Besitztümer, unser Ansehen, öffentliche Ämter – also alles, was nicht Akt unseres Geistes ist.« Sofern wir etwas nicht beeinflussen können, ist es müßig, zu weinen. Ganz im Gegenteil: nach der stoischen Logik müssen wir diese Trauer überwinden. Die gesamte stoische Ethik dreht sich demnach um den richtigen Gebrauch menschlicher Vernunft, welcher es uns ermöglicht, in allen Lagen die Kontrolle über unsere Ansichten zu behalten. 

Stoizismus in der Praxis

Es gibt unzählige externe Ereignisse, auf die wir keinen Einfluß haben, die uns aber manches Unglück bringen können. Nehmen wir nur die katastrophale politische Situation, die wir gerade erleben. Nach der stoistischen Maxime »erdulde und verzichte« macht sich der Stoiker immun gegenüber der Außenwelt. Er nimmt sein Schicksal an und lernt, Unglück »stoisch« zu ertragen. Es liegt nämlich nicht in seiner Macht, dieses Unglück zu überwinden, also warum sollte er ein Glück begehren, das sowohl vergeblich, als auch utopisch ist. Wie bei Albert Camus´ »Sisyphos« in »Der Mythos des Sisyphos« ist es just das Leben in der Gegenwart, ohne einen unmöglichen Ausweg aus seinem tragischen Schicksal zu suchen, durch das er sein Glück findet. 

So ist der Stoizismus nicht nur eine Anleitung, mit Schicksalsschlägen umzugehen, sondern ein Lebensmodell für unserer Existenz im Allgemeinen, was den Stoizismus zu einer universellen und zeitlosen Philosophie macht. 

Was das Thema Liebe betrifft, so betrachtet der Stoizismus diese sehr nüchtern als einen seelischen Effekt, eine natürliche Neigung, die jedoch unter dem Einfluß des sozialen Milieus steht, in dem wir leben. Die Stoiker glauben, daß es Erziehung und Gewohnheit sind, die uns von bestimmten Dingen überzeugen, zum Beispiel, daß Schmerz etwas Schlechtes ist. Der Verstand muß daher als Filter agieren, der bestimmte Emotionen zuläßt oder nicht und sie reguliert. Man kann daher verliebt und ein Stoiker sein, jedoch nur, wenn diese Liebe unter einem gewissen Grad der Kontrolle verbleibt. 

Der Diskurs in Epiktets »Handbuch« ist daher durchaus noch aktuell. »Bei allem, was dir geschieht, denke daran, in dich hineinzuhören und dich zu fragen, welche Fähigkeit du besitzt, um damit umzugehen. Du erblickst einen schönen Mann oder ein hübsches Mädchen? Finde Enthaltsamkeit in dir. Du leidest? Finde Geduld. Auf diese Weise bist du nicht länger Spielball deiner Ansichten. Sage niemals, daß du etwas verloren hast. Sage, du hast es übergeben. Dein Kind ist tot? Du hast es übergeben. Deine Frau ist tot? Du hast sie übergeben.« So ruft der Stoizismus dazu auf, das Leben in Balance zu halten, nicht emotional in rosarote Höhen aufzusteigen, wenn das Herz Widerhall findet, oder in schwärzeste Tiefen abzutauchen, wenn uns ein Schicksalsschlag trifft.

Vorurteile gegenüber dem Stoizismus

Trotz der verständlichen Lehre ist der Begriff »stoisch«, genau wie der Begriff »epikureisch«, heute mit einer Vielzahl von Vorurteilen behaftet. Sehen wir uns die gängigsten Vorurteile einmal genauer an. 

»Der Stoiker ist unsensibel, hat keinerlei Gefühle und ist vollkommen abgestumpft.«

Gefühle hat er jedoch sehr wohl, gibt sich ihnen jedoch nur hin, wenn er dabei die Kontrolle nicht verliert. Er rationalisiert seine Leidenschaften. Es ist durchaus möglich, zu lieben und doch stoisch zu sein, sofern es uns gelingt, unsere Vorstellungen der Liebe zu beherrschen.  

»Der Stoiker läßt den Dingen ihren Lauf. Wenn er krank ist, wartet er auf den Tod.« 

Wieder einmal handelt es sich um eine falsche Vorstellung vom Stoizismus. Wenn er krank ist, ruft der Stoiker einen Arzt und läßt sich behandeln, da es in seiner Macht steht, einen Arzt zu rufen und sich behandeln zu lassen, und da Gesundheit körperlichen Beschwerden vorzuziehen ist. Wenn die Krankheit sich dagegen als unheilbar herausstellt, nimmt er es hin und lebt gelassen seine letzten Tage. 

»Der Stoizismus ist eine egoistische Philosophie, die sich nicht mit dem Gemeinwohl beschäftigt.« 

Es ist richtig, daß der Stoiker zuallererst seine eigene Ausgeglichenheit anstrebt und Liebe in der Form von Nächstenliebe in seiner Philosophie nicht an erster Stelle steht. Aber dieser Egoismus ist völlig relativ, da der Stoiker trotzdem ein Mensch, und der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen ist. Es besteht überhaupt kein Gegensatz zwischen Philanthropie und dem Stoizismus. Es handelt sich lediglich um eine klardenkende Philanthropie und nicht um Selbstaufgabe für einen anderen. Jedoch ist niemand, der der stoischen Lehre folgt, auf Philanthropie angewiesen. 

Der Stoizismus ist in der Theorie eine philosophische Lehre, die den Verstand bzw. die Vernunft als Mittel gegen die Leiden des Lebens begreift. Es ist nämlich genau dieser dem Menschen eigene Verstand, der es uns – vom Geiste richtig geführt – ermöglicht, Glück (im Sinne der Ataraxie) im Leben zu erreichen, und das ungeachtet der Lebensumstände. Ob Sklave oder Herr, Arbeiterklasse oder Oberschicht, der Stoiker bleibt Herr seiner Ansichten, also seiner Einstellung den Dingen gegenüber. Er sieht die Dinge, wie sie sind und ist sich ihrer Vergänglichkeit bewußt. Und er gibt sich nur mit Verstand und Vernunft seinen Leidenschaften hin. 

Selbstbetrachtungen

Wo wir wieder bei Marc Aurel wären. Die Neigung zur Philosophie soll sich früh bemerkbar gemacht haben. Von klein auf wurde ihm Ernsthaftigkeit nachgesagt. Kaiser Hadrian, mit dem er entfernt verwandt war und der ihn später in die Regelung seiner Nachfolge einbezog, nannte ihn »verissimus« – den Wahrhaftigsten. Im Alter von 12 Jahren verordnete er sich nach dem Vorbild der Kyniker statt des bequemen Betts ein hartes Nachtlager auf dem Boden und kleidete sich nach Art der Philosophen mit einem kurzen Umhang. Unter seinen Lehrern hebt er im ersten Buch der Selbstbetrachtungen besonders jene dankbar hervor, die ihn in die Philosophie einführten und ihn dazu brachten, gemäß philosophischen Leitsätzen zu denken und zu handeln. Sie waren alle Stoiker.

Summa: Marc Aurel hat es geschafft, die Rolle des Kaisers und des asketischen Philosophen zu vereinen. Inmitten der »römischen Dekadenz« ging er einen ganz eigenen Weg – im Rahmen seiner Möglichkeiten. Was sich sehr positiv auf seine Regierungsentscheidungen auswirkte. Sowohl das römische Volk, als auch die gesellschaftlich Benachteiligten profitierten davon. 

Obwohl 2500 Jahre alt, ist die Philosophie des Stoizismus aktueller dennje. Mit der Quintessenz: Nicht immer sofort emotional auf die Ereignisse in der Außenwelt zu reagieren, sondern »bei sich« zu bleiben. Entscheidungen vernünftig abzuwägen, anstatt blind dem »Mainstream« zu folgen. Schicksalsschläge hinzunehmen, anstatt an ihnen zu zerbrechen. Die Kontrolle über das eigene Leben nicht an andere abzugeben. Und den alten Gelassenheitssatz zu leben, daß wir akzeptieren, was wir nicht ändern können, ändern, was wir ändern können, und lernen, zwischen beidem zu unterscheiden.

Die »Selbstbetrachtungen« sind ein fast zwei Jahrtausende altes Juwel und ein Leitfaden für ein gelasseneres Leben. Es lohnt sich, einmal hineinzulesen. Zum Abschluß noch ein Zitat, mit welchem Marc Aurel den Weg zum »Glück der Seelenruhe« beschreibt, das nur der leitende Teil der Seele bahnen kann – das Hegemonikon:

»Der führende Teil der Seele ist der Teil, der sich selbst weckt, sich seine eigene Richtung gibt und sich selbst zu dem macht, was er jeweils will, und der es bewirkt, daß ihm alles, was geschieht, so erscheint, wie er es will.«

Ergo: Wir sind selbst die Architekten unseres Schicksals.

Autor
Michael Hoppe

Weitere Informationen
SWR2: Video »Mark Aurel und die Stoiker«

Verlag für Natur und Mensch
NATURSCHECK Redaktion

© 2022  Verlag für Natur & Mensch | Impressum | Datenschutz