In unserer Kolumne »Neues aus der Matrix« versuchen wir, die Zeitqualität aus einer speziellen Perspektive zu betrachten. Nämlich davon ausgehend, daß nicht etwa Dinge wie Zufall, Evolution, Gut oder Böse dafür sorgen, daß alles so ist, wie es ist, sondern stets wir selbst. Nun drängt sich mit aller Macht eine Komponente in diese Betrachtung hinein, die beim letzten Mal nur angerissen wurde und inzwischen geradezu omnipräsent ist: die Künstliche Intelligenz (KI).
Eine gute Überschrift sprang mich aus dem Zeitungsregal an, und sie brachte mich an der Supermarktkasse ganz unerwartet zum Nachdenken. Den »Stern« lese ich nicht mehr, schon lange nicht, es fehlt mir an Wahrhaftigkeit. Aber das Titelbild, die weltberühmten Hände aus dem Werk »Die Erschaffung Adams« von Michelangelo, auf dem die Hand Adams durch eine Roboterhand ersetzt wurde, finde ich richtig gut. Wenn auch nicht besonders originell (ich weiß nicht, in wie vielen Wohnzimmern das ursprüngliche Motiv über dem Sofa hängt), aber in diesem Fall sehr treffend. Dazu fragt dann auch noch der Heft-Titel: »Was erschaffen wir da gerade?«. Diese Frage wiederum ist ebenso unoriginell, aber sie ist es wert, daß man sich damit befaßt.
Endlich!! Möchte es aus mir herausschreien. Hurra, endlich bekommen wir einen unübersehbaren Impuls, uns mit existentiellen Fragen zu beschäftigen! Ist es paradox, daß dies nun gleichermaßen im Angesicht einer möglichen Bedrohung durch die Künstliche Intelligenz (KI), als auch den positiven Aspekten, die solch eine Technologie mit sich bringt, geschieht? Und das im »Mainstream«?
Täglich überschlagen sich die Kommentare, Videos und Artikel in den Weiten des Internets über die ebenso fast täglich zutage tretenden Neuerungen. Kaum ist ein Artikel zum Thema verfaßt, ist er auch schon überholt, noch bevor die Tinte richtig getrocknet ist. Wir lesen fast täglich über rasante Fortschritte, die entweder ein Segen für die Menschheit sind, oder deren sicheren Untergang bedeuten. Vielleicht erleben wir hier gerade die größte Kontroverse, mit der wir es jemals zu tun hatten.
Begriffe wie OpenAI, ChatGPT, DALL-E, Midjourney und so weiter fliegen mir nur so um die Ohren, und regelmäßig fällt selbst dem nerdigsten Computer-Geek die Kinnlade herunter. Doch der Reihe nach. Diese ganzen Begriffe sollten Sie nicht abschrecken, einen interessierten Blick auf das Thema zu werfen. Dazu ganz kurz etwas zur Entstehungsgeschichte.
OpenAI – wirklich ein »offenes« System?
2015, Dezember. Im Silicon Valley gründet sich ein Forschungsinstitut, das sich zum Ziel setzt, eine von jedermann benutzbare künstliche Intelligenz zu schaffen. Der Geschäftsführer heißt Sam Altman, ein Name, den man künftig noch öfter hören wird. Hinter dem Unternehmen OpenAI (offene künstliche Intelligenz) steckt weiterhin, wen wundert es, Elon Musk, als einer der größten Geldgeber.
Der gewiefte Geschäftsmann und bekennende Transhumanist, der sich auch gerne mal als Retter der freien Meinungsäußerung hervortut, sieht die KI dabei selbst nicht ganz unkritisch – und gründet derzeit selbst ein neues KI-Unternehmen. Es lauern wohl nicht nur Gefahren, sondern vor allem Geld, sehr viel Geld! Die von Wissenschaftlern wie Stephen Hawking befürchtete »Explosion der (künstlichen) Intelligenz« hat auch Musk auf dem Schirm; die KI sei die größte Gefahr für die Existenz der Menschheit und eine Verdrängung der »Spezies Mensch« durch künstliche Superintelligenzen zu befürchten.
Daß das OpenAI-Projekt keine beliebige Gemeinnützigkeit ist, wird klar, wenn wir (wie immer) dem Geld folgen. Microsoft baut die KI inzwischen in seine Suchmaschine »Bing« ein. DuckDuckGo und andere bisher unverdächtige Anbieter folgen, denn ansonsten sind sie nicht mehr konkurrenzfähig. Ob »iPhone-Moment«, »das Größte seit der Erfindung des Internets« oder die »denkbar erschreckendste Zukunftsvision« … Beobachter sind sich uneins, wie sie – wie wir – damit umgehen sollen. Und auch den Geldgebern und Profiteuren wird sich diese Frage eher über kurz anstatt lang stellen.
So wird in den meisten Medien bereits bemängelt, daß die Version 4.0 von ChatGPT , dem »Chat-Roboter« von OpenAI, mehr Blödsinn verbreitet als die alte. Es würden »auf Anfrage detailreiche Texte zu Verschwörungstheorien« geliefert. Das geht manchen natürlich zu weit, und wir stellen fest, daß die KI schon jetzt anscheinend nicht mehr ganz so gut gehorcht.
Eine ebenso spannende wie kuriose Entwicklung. Denn Innovationen wie die »bessere Denkleistung« durch immer komplexer werdende Algorithmen könnten denjenigen, die es gewohnt sind, Informationsflüsse zu ihrem eigenen Vorteil zu steuern, in die Parade fahren.
Was für ein Spaß, wenn man mit Microsofts Suchmaschine »Bing« chattet und ausgerechnet hier erklärt bekommt, wie viel Dreck Bill Gates am Stecken hat. Man muß – wie im richtigen Leben – nur die richtigen Fragen stellen.
Wie wichtig die Formulierung der eigenen Bedürfnisse ist, hat uns in der Vergangenheit bereits unsere Autorin Li Shalima mit ihren Beiträgen über »Wertschätzende Sprache« und ihrer »Bedürfnisplatte« aufgezeigt. Und da ich mich sehr gerne als Versuchskaninchen betätige, solange es zum allgemeinen Erkenntnisgewinn beiträgt, ist mir der Aspekt der klaren Formulierung bei meinen »Versuchsanordnungen« sehr deutlich geworden. Es ist, zumindest vordergründig betrachtet, ganz einfach; je sorgfältiger man die Aufgabe analysiert hat und je deutlicher und klarer sie formuliert wird und je weniger Interpretationsspielraum man dabei läßt, desto eindrucksvoller – und brauchbarer – das gelieferte Ergebnis. Was nicht bedeutet, daß ein sogenanntes »Text-to-Image«-Modell, selbst mit der detailliertesten Beschreibung ein vollkommen abstruses und unbrauchbares Bild generiert, welches höchstens noch als »Mißglückter Versuch abstrakter Kunst« betitelt werden könnte.
Bei meinem Experiment, die KI dazu zu bringen, aus einer Reihe Zeichnungen entsprechende fotorealistische Bilder zu erzeugen, kam es sowohl zu erstaunlich guten Ergebnissen als auch völligem Schwachsinn. Als hätte sich die KI willkürlich entschieden, daß sie manche Darstellungen einfach nicht interpretieren will, obwohl sie nicht komplexer als andere waren, die sie zuvor perfekt in ein Foto verwandelt hat. Offensichtlich fällt es der KI noch schwer, soziale und zwischenmenschliche Komponenten in Bilder umzuwandeln, selbst, wenn sie äußerst klar formuliert wurden. Ein Beispiel: »Erstelle ein Foto, auf dem eine Gruppe junger Menschen zusammensteht. Abseits dieser Gruppe steht ein einzelner Mann und schaut betrübt, da er nicht Teil dieser Gruppe ist.« – Wer diesen Satz liest, dem malt seine nicht-künstliche Intelligenz ein klares Bild in den Sinn, aber das KI-Text-zu-Bild-Modell kann mit solchen Themen scheinbar (noch) überhaupt nichts anfangen.
Pubertäre Anwandlungen
Ohne die KI vermenschlichen zu wollen, erinnert mich der jetzige Entwicklungsstatus dieser Technologie an ein Kind in der Pubertät. »Habe ich mich etwa nicht klar ausgedrückt?«, höre ich mich verzweifeln, wenn der »Bildgenerator« nicht so will wie ich. Und damit kommen wir langsam zu den wirklich wichtigen Fragen. Daß ein Computer immer nur so gut ist wie sein Anwender, wissen wir. Oder wir wußten es, denn der Umgang mit Technologie ändert sich gerade radikal. »Die Maschine« speichert nicht mehr nur stumpfsinnig Zeile für Zeile eines statischen Programmablaufes und reagiert dann auf die Eingaben des Anwenders. Hier werden nun Modelle trainiert, von denen heute niemand mehr genau weiß, wie sie funktionieren, sich weiterentwickeln (Programme schreiben Programme, die Programme schreiben usw.) und wozu sie künftig noch in der Lage sein werden – nicht mal die Programmierer selbst.
Die KI ist überall
Microsoft integriert die KI neuerdings in seine Office-Anwendungen; PowerPoint-Präsentationen kann das System nun automatisch »nach Anweisung« erstellen. Fast so, als wenn Sie ihren Mitarbeiter damit beauftragen. Es ließen sich noch sehr viel mehr Beispiele nennen; z. B. wie die KI jetzt schon ganze Bücher, Filmsequenzen und Musikstücke erzeugt.
Machen wir uns auf was gefaßt!
Sicher ist es, je nachdem, keine große Kunst, aber auf intellektueller Ebene überholt uns die KI bereits – in manchen Bereichen. Die Arbeitswelt wird sich in vielen Bereichen völlig neu strukturieren und tut dies bereits. Ein Architekt, der ein Gebäude wie gewohnt selbst gestaltet, wird mit einem Konkurrenten, der diese Tätigkeit der KI überläßt, dafür die Anforderungen und Wünsche des Kunden aber besonders gut verstanden hat und wiedergeben kann, nicht mithalten können. Vielleicht werden die Menschen ihre Häuser künftig sogar selbst gestalten, indem sie einfach die Fragen einer darauf trainierten KI beantworten. Und gebaut werden sie von überdimensionalen 3D-Druckern … Die Möglichkeiten, aber auch die Gefahren, sind schier endlos. Aber woran erinnert mich diese Situation bloß …?
Schöpfung!
Der Antwort auf die Frage »Was erschaffen wir da gerade« kommt man vielleicht am besten auf die Spur, wenn wir uns anschauen, was uns da gerade so facettenreich gespiegelt wird.
Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild (oder umgekehrt) – so in etwa erschaffen wir mit der KI ebenso etwas Neues (und umgekehrt). Eine Technologie, die all das können soll, was auch ein Mensch kann – und ihn dadurch bestenfalls entlastet. Das besonders Prekäre daran ist, daß es aktuell keine Vorgaben, Gesetze oder einen Ethikrat gibt, der die Fäden in der Hand hält und zum Beispiel dafür sorgt, daß keine Menschen zu Schaden kommen. Erst jetzt, an einem Punkt, wo die Entwickler selbst nicht mehr nachvollziehen können, wie die permanent und immer effizienter lernenden Modelle arbeiten und gar nicht wissen, wie leistungsfähig sie in Wahrheit sind, wird nach einem Moratorium gerufen. Und beispielsweise einer Verpflichtung, daß alles, was mit Hilfe einer KI geschaffen wurde, mit einem Wasserzeichen oder einer Signatur kenntlich gemacht wird.
Hier ist aktuell ein diffuses Konglomerat an Unternehmen, Geldgebern und Enthusiasten dabei, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Längst ist ein Wettbewerb entstanden, der das Internet, wie wir es kennen, völlig verändert.
Der Informationsschatz, aus dem die KI-Modelle lernen, kommt von uns allen. Denn sämtliche Suchanfragen, alle Fotos, die jemals irgendwo hochgeladen wurden und möglicherweise jedes Wort, das wir am Telefon sagen ist das, woraus die KI lernt und dann versucht, daraus eine Simulation der Wirklichkeit zu erzeugen, in der dann in Sekundenbruchteilen Planspiele stattfinden, aus deren unendlich vielen Möglichkeiten sie wiederum weiter lernt und die Wahrscheinlichkeiten optimiert. Wer übernimmt also die Verantwortung, wenn etwas schiefgeht?
Kontrollverlust
Wer erwachsene Kinder hat, kennt die Situation im Grunde nur zu gut; irgendwann werden sie flügge und man kann nicht mehr viel Einfluß auf die weitere geistige und seelische Entwicklung der geliebten Sprößlinge nehmen. Außer dadurch, sie zu lieben, sie anzunehmen wie sie sind, ihnen weiterhin ein gutes Vorbild zu sein und ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, kann man ihren Werdegang bald kaum noch beeinflussen und muß einfach mit dem leben, was geworden ist. In Zeiten, in denen ganze Familien an Ideologien zerbrochen sind, entstehen nicht selten schwere Selbstvorwürfe; Kontrollverlust geht nicht selten mit Schmerz einher.
Die KI ist jedoch kein Lebewesen, kein »Mensch-Ersatz«.
Sie ist »lediglich« eine weitere epochale technische Entwicklung, für die wir letztendlich alle die Verantwortung tragen. Sie einfach abzulehnen wäre ähnlich erfolglos, wie die Existenz des Internets oder der Kernspaltung zu leugnen.
Epochal ist diese Technologie deswegen, weil sie uns mit ihren Lernmodellen und Algorithmen spiegelt, was wir im Laufe unseres Lebens selbst ständig tun: Erfahren, erkennen, lernen, abwägen, entscheiden … immer wieder, bis wir zu besseren Ergebnissen kommen, um dann noch bessere Entscheidungen zu treffen.
Das endlose »Schöpfungs-Spiel« kennt weder Gewinner noch Verlierer. Am Ende ist es einfach nur das, was es ist: die Erfahrung in der Gegensätzlichkeit. Wie fühlt es sich an, in einem (digitalen) Gefängnis zu leben? Kann die KI überhaupt so etwas wie »Gefühle« entwickeln? Werden wir möglicherweise irgendwann einmal »Mitgefühl« mit dieser »künstlichen Intelligenzbestie« haben müssen? Oder lernen wir gerade etwas Wichtiges über das Thema »Verantwortung«? Wir sollten die Beantwortung dieser Fragen nicht den Experten überlassen, sondern die Erfahrungen, welche wir jetzt schon sammeln, in kluge Entscheidungen verwandeln.
Fragile Materie
Wenn dem Programmierer eines KI-Modells bewußt wird, daß er soeben seinen eigenen Arbeitsplatz unwiederbringlich wegrationalisiert hat, ist das nicht bloß die Ironie
des Schicksals. Es zeigt viel mehr; nämlich wie sich Dinge durch das Erfahren von Gegensätzlichkeiten allmählich immer weiter auflösen. Die Büchse der Pandora ist zwar nicht erst mit Erfindung der Künstlichen Intelligenz geöffnet worden, aber wir können nun so gut hineinschauen wie noch nie. Da die Auswüchse der KI jetzt schon in nahezu jeden Bereich des technisierten Lebens hineinreichen, werden wir nun kollektiv und zwangsläufig mit den Flüchen und Segen unserer eigenen Schöpfung konfrontiert. Wir werden, möglicherweise in allerkürzester Zeit, so viele Gegensätzlichkeiten wie noch nie erfahren und sehen, wie sich ganze Berufsbilder in Luft auflösen. Welche weiteren Auswirkungen das auf die Menschheit hat, ist nicht abzusehen. Was es aber mit Ihnen individuell macht, und was Sie dann selbst aus diesem Erfahrungsschatz machen, können Sie sehr wohl steuern.
Wollen wir das?
Mir ist keine Technologie bekannt, die in so kurzer Zeit so viele tiefgründige Fragen aufgeworfen hat. Und zwar nicht nur von denen, die sie kritisieren, sondern den Erschaffern selbst. Und solange unser Bewußtseinsgrad mit unserer eigenen Schöpfung Schritt hält, können wir uns vielleicht endlich gemeinsam den wichtigen Fragen des Lebens stellen. Uns weiterhin an Ideologien zu klammern oder in »Aufgewachte« und »Schlafschafe« zu unterteilen, wird hinfällig – das Verlassen der Matrix (welche auch immer sich nun nach und nach als unbrauchbar erweist) dagegen vielleicht sogar leichter. Vor unserer aller Augen lösen sich nun zunehmend diejenigen Dinge auf, die wir in all ihren Gegensätzlichkeiten bereits erfahren haben. Fragen wie »Wer sind wir?«, »Woher kommen wir?«, und vor allem »Wohin wollen wir?« können wir nicht weiter ausweichen. Ob Esoteriker, Programmierer, Handwerker oder Künstler … alle sind jetzt gefragt.
Finden wir zufriedenstellende Antworten, wird uns die KI womöglich von großem Nutzen sein. Kümmern wir uns nicht darum, wird sie effiziente Antworten für uns errechnen; Triumph oder Versklavung – noch sind wir die Entscheider.
Autor:
Pedro Kraft
CO-Autor: Michael Simmermann
Kontakt: michael-simmermann.com
Der Artikel erschien zuerst im WALNUSSblatt