Die Montessoripädagogik – ein achtsamer Weg!

von Dorothea Claßen

Bericht über eine Pädagogik im Spannungsverhältnis zwischen Idealvorstellung und realen Möglichkeiten.

Eine besondere Kindheit im 19. Jh.:

Wenn ich über die Montessoripädagogik spreche, dann beginne ich immer mit der Erfinderin und Gründerin dieser Methode, Maria Montessori. Maria Montessori wurde am 31. August 1870 nördlich von Rom geboren. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern Renilde geb. Stoppani und Alessandro Montessori, in einer Zeit, in der 6 – 14 Kinder keine Seltenheit waren.

Marias Mutter Renilde war eine Frau aus reichem Hause. Sie heiratete erst mit 28 Jahren und war sehr daran interessiert, ihrer Tochter alle Möglichkeiten der Bildung zu bieten, die es für Frauen in dieser Zeit gab. So besuchte Maria eine Grundschule und darüber hinaus ein naturwissenschaftliches Collegio. Ihr Vater war damit einverstanden, daß sie Ingenieurin werden wollte. Als Maria jedoch beschloß, Medizin zu studieren, brauchte es die Überzeugungskraft der Mutter, um ihren Vater umzustimmen.

Für die Professoren der Universität brauchte Maria Montessori noch wesentlich mehr Überzeugungsfähigkeit um als erste Frau in Italien Medizin studieren zu können.

Sie studierte nun zuerst Medizin und schließlich Anthropologie, denn es gab zu dieser Zeit keine wissenschaftliche Disziplin der Pädagogik, bevor sie in verschiedensten Instituten mit Kindern arbeitete und schließlich ihr eigenes Kinderhaus gründete. 

Die Beobachtung:

Beobachten wir die Entwicklung eines Kindes im ersten Lebensjahr, so lernen die Kinder durch Nachahmung, Beobachtung, Versuch, Irrtum und die Einflüsse ihrer Umgebung. Ein Kind strebt von sich aus nach Selbstständigkeit und besitzt ein inneres Bedürfnis danach, sich zu entwickeln. Dieses Bedürfnis nennt Maria Montessori den inneren Bauplan eines Kindes, und dieser hört nicht auf, nachdem das Kind sitzen, laufen und sprechen gelernt hat.

Genau das hat Maria Montessori erkannt während ihrer Zeit als junge Ärztin in einem Psychiatrischen Krankenhaus, als Sie Kinder beobachtete, die Kügelchen aus ihrem Brot formten, um Erfahrungen zu sammeln, obwohl sie hungrig waren. Sie schloß daraus, daß Lernen zu den Grundbedürfnissen des Menschen gehört.

Die Kinder in der Klinik wurden damals als »Idioten« bezeichnet. Gemeinsam mit Guiseppe Montessano arbeitete sie anschließend mit den Kindern an einem neu gegründeten Institut. Auf der Suche nach weiterführenden Informationen und Materialien für diese fand Maria Montessori die Bücher von Eduard Seguin und die Seguintafeln (Material zur Zuordnung von Ziffer und Menge). Seguin hatte in Paris mit gehörlosen Kindern gearbeitet. Und Jean Marc Gaspard Itard tat das sogar schon vor Seguin im 18. Jh. Diese Erfahrungen waren der Grundstock für Maria Montessori, die von nun an ihr eigenes Material entwickelte, um den »idiotischen« Kindern zu helfen, die Welt zu begreifen. Dabei spielte die Beobachtung von Anfang an eine entscheidende Rolle. Maria Montessori geht davon aus, daß Kinder von Natur aus gute Menschen sind und nichts Böses wollen. Wenn es zu Spannungen oder Mißerfolg kommt, hat dies einen Grund, und es gilt diesen durch Beobachtung zu finden.

Intensives Beobachten bedeutet in diesem Moment: meine Konzentration, objektiv und geerdet auf diese eine Sache zu fokussieren. Maria Montessori hat die Anleitung und Betreuung der Kinder deshalb oft der Leiterin des Kinderhauses übertragen, um sich dann den Raum und die Zeit zu nehmen, nur als stummer und stiller Gast zu beobachten.

Die Grundsätze der Methode:

»Hilf mir, es selbst zu tun!« ist der bekannteste Satz, der mit der Montessoripädagogik in Verbindung gebracht wird. Ausgehend von der Idee, daß das Kind einen inneren Bauplan besitzt, nach dem es sich entwickelt und entfaltet, spricht Maria Montessori von sensiblen Phasen, in denen das Kind sehr leicht und schnell sein Wissen und seine Fähigkeiten in einem bestimmten Bereich aufbauen kann. Das Kind kommt dann mit den in der vorbereiteten Umgebung bereitgestellten Materialien in die Polarisation der Aufmerksamkeit – wir nennen dies heute den Flow.

Die Aufgabe des Erwachsenen dabei ist die Bereitstellung der vorbereiteten Umgebung und der altersgemäßen oder interessenorientierten Entwicklungsmaterialien. Die Umgebung also immer wieder neu zu gestalten und anzupassen an die Lernthemen der Kinder.

Dabei sollten die Kinder zuerst einen großen Überblick über ein Thema bekommen in Form einer kosmischen Erzählung. Zum Beispiel: die Entstehung der Schrift und dann das Erlernen der einzelnen Buchstaben, die in einer ruhigen Arbeitsatmosphäre von jedem Kind in Einzelarbeit ausgeführt werden. Die Übungen sind dabei so angeordnet, daß sie vom Leichten zum Schweren führen. 

Der absorbierende Geist: 

In ihren letzten Jahren in Indien beschäftigte sich Maria Montessori besonders mit Babys und jungen Kindern. Sie beobachtete, wie schon Säuglinge alles in ihrer Umgebung aufsaugen wie ein Schwamm. Der absorbierende Geist ist die Grundlage für die spätere Entwicklung und die Verknüpfung von Eindrücken und Beobachtungen mit Sachverhalten und Techniken.

Maria Montessoris Rosa Turm, ein Material für 3-Jährige, besteht aus 10 rosa Kuben. Die Zahl 10 wird durch das Spiel des Auf – und Abbaus unterbewußt aufgenommen und kann später mit dem goldenen Perlenmaterial verknüpft werden. Der größte rosa Kubus ist so groß wie der tausender Würfel des goldenen Perlenmaterials und schafft so eine greifbare Verknüpfung. Um diese und andere Verknüpfungen physisch darzustellen, sollten die angebotenen Lernmaterialien in der vorbereiteten Umgebung so angeordnet sein, daß sie aufeinander aufbauen und einen Aufforderungscharakter haben.

Außer der vorbereiteten Umgebung war Maria Montessori auch die Ergonomie des Arbeitsplatzes wichtig. Sie hatte nach ihrer Arbeit im Institut die ersten Vorsorge-Untersuchungen für Kinder eingeführt und Eltern aufgeklärt über die Hygiene und gutes Wachstum ihrer Kinder. So hat sie auch festgestellt, daß die Schulbänke den Kindern keine Freiheit in der Bewegung lassen und ungeeignet sind für ein wachsendes Kind. Sie entwarf daraufhin eigene Schulmöbel für ihr Kinderhaus und ließ diese vom Schreiner anfertigen. Stühlchen und Tische sowie Spül- und Waschtische für Kinder in der geeigneten Höhe waren damals revolutionär!

Wie ist es heute?

Kindgerechte Möbel werden von Eltern an einer Schule erwartet. Entwicklungsmaterialien, auch wenn sie noch so ästhetisch geformt und dargeboten werden, finden erst auf den zweiten Blick die Achtung, die ihnen gebührt. Sehr vieles wird von Eltern und Kindern als normal und selbstverständlich erachtet. Gefordert wird immer, gegeben, nur wenn man gerade Lust darauf hat. Ein Resultat des Wohlstandes in dem wir mittlerweile leben und den wir erkennen und wertschätzen sollten, angesichts des langen Weges, den wir hinter uns haben. 

Die intrinsische Motivation:

Die innere Bereitschaft, die intrinsische Motivation, ist in dieser Pädagogik eine Grundvoraussetzung. Die Neugierde darf noch nicht verschüttet sein. Wer das Angebotene verschmäht, kann daraus auch keinen Nutzen ziehen. Ist diese nicht vorhanden, dann bedarf es intensiver Einzelarbeit mit dem Kind, um die Normalisierung wieder herzustellen.

Die Umwelt der Kinder heute, die alles jederzeit zur Verfügung stellt und auch einfordert, die immer mehr und immer kompliziertere und vielfältigere Spielideen im digitalen Bereich anbietet, hilft dem Kind nicht, die Erfahrungen zu machen, die für seine Entwicklung nötig wären. Maria Montessoris Materialien sind Sinnesmaterialien, die die Sinne schulen – und dies muß man mit der Hand tun.

Die Übungen des täglichen Lebens kräftigen die Muskeln (Kaffeemahlen, Schleife binden) und geben dem Kind nach vollendeter Arbeit ein sichtbares Ergebnis und eine erfahrbare Selbstständigkeit. Dies kann uns die digitale Welt nicht bieten! Doch da, wo diese Erfahrungen in der frühen Kindheit fehlen, scheitert auch später – so meine Erfahrung – die selbständige Entwicklung, die Fähigkeit, sich selbst Wissen anzueignen und den eigenen Erfolg zu spüren.

In der Montessoripädagogik gibt der Lernbegleiter keine Bewertung ab, er gibt Rückmeldung, wenn das Kind es wünscht. Die Rückmeldung über fehlerhaftes Anwenden einer Übung oder Ausführen einer Fertigkeit geschieht über das Material selbst. Es gibt immer eine Selbstkontrolle.

Dazu ein Beispiel

…aus dem Bereich Übungen des täglichen Lebens, die Löffelübung: Auf ein einfarbiges Tablett werden zwei Schüsselchen gestellt. Die eine Schüssel wird zu ¾ mit Bohnen oder Linsen gefüllt, deren Farbe sich deutlich vom Tablett abhebt, damit man verschüttete Bohnen oder Linsen sofort und leicht erkennen kann. Nun wird noch ein Löffel daraufgelegt, der dem Entwicklungsstand des Kindes entspricht. Also so groß oder klein, breit oder dick, daß das Kind gut damit arbeiten kann. 

Die Aufgabe besteht nun darin, die Bohnen von einer Schüssel in die andere zu transportieren, ohne zu viele auf dem Tablett zu verlieren. Die verschütteten Bohnen werden mit der Hand wieder eingesammelt. Die Selbstkontrolle soll den Erfolg und Freude am eigenen Tun noch verstärken im Sinne von »Hilf mir, es selbst zu tun!«.  

Diese Freude am eigenen Erfolg wirkt dann weiter motivierend und stärkt das Selbstbewußtsein und die Frustrations- Toleranz. Denn ich lerne, etwas immer wieder zu wiederholen, bis ich es selbst geschafft habe.

Achtsamkeit in der Montessoripädagogik heißt:

Ich respektiere die Wahl des Lernmaterials, welches sich das Kind ausgesucht hat. Ich beobachte seine Arbeit mit dem Material ohne Einmischung oder Kommentare. Ich unterstütze, wo es nötig ist, um das Kind nicht in einer Frustration »hängen« zu lassen, wenn es gar nicht mehr weiter weiß. Ich lasse dem Kind seinen Entwicklungsprozeß und gebe respektvolle Rückmeldung.

Wenn ich achtsam (ganz im Hier und Jetzt) beobachte, kann ich mich mitfreuen an den Momenten, in denen ein Kind ganz allein zum Erfolg kommt und diesen Ausdruck zufriedener Freude über das Geschaffte hat. Diese Beobachtungen kann ich dann auch in regelmäßigen Gesprächen mit dem Kind teilen und so einen reflektierten und konstruktiven Austausch zwischen Lernbegleiter und Kind schaffen.

Der Erwachsene – die Berufung Lernbegleiter:

Ein Lernbegleiter in dieser Pädagogik ist ein Mensch, der in seinem Beruf eine Berufung gefunden hat und dafür lebt. Er/sie bereitet den Boden für das Wachstum der Kinder. Dieses Engagement erfordert eine große Portion Motivation und Willen, für das Kind und an sich selbst zu arbeiten. Die Tatsache, daß ein Lernbegleiter keine Kontrolle durch Tests und Noten hat, kann üblich ausgebildete Lehrer durchaus unruhig und nervös machen. Doch darf man dabei nicht vergessen, daß das Beobachten und Begleiten des Kindes – im regen Austausch mit diesem – eine weitaus reflektiertere und komplexere Spiegelung der eigenen Fähigkeiten ist, als eine Note es sein könnte. Die freie Wahl des Kindes sollte hierbei nicht von Angst begrenzt werden.

Dazu kommen die immer enger werdenden Vorgaben der Kultusbehörde. Wie soll ein unfreier Lernbegleiter die Freiheit und den Umgang damit vorleben? Wohin soll der überfrachtete Anforderungskatalog, der am grünen Tisch erdacht wurde, führen? Auch freie und genehmigte Schulen werden vom Staat unterstützt und sind somit abhängig. Achtsamkeit erfordert Gelassenheit, die mir unter den gegebenen Voraussetzungen fast unmöglich scheint. Und doch gibt es zum Glück in meiner täglichen Arbeit immer wieder den Moment, indem ein Kind etwas für sich entdeckt und ich mich mitfreuen kann an seinem Erfolg.  

Autorin
Dorothea Claßen,
Montessoripädagogin

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