Seherinnen in frühgermanischen Zeiten

von Birgit Weidfrau

Von gelebten matriarchalen und indigenen Menschen wissen wir, wie wichtig es ist, die Ahnen zu ehren. Die germanische Stammeskultur ist die vorrömische indigene Kultur unserer Ahnen im Europa nördlich der Alpen. Lange vor den Römern wanderten unsere Ahnen in unsere heutige Heimat ein. Unser Land wurde von den Römern »Germania« genannt. Die Germaninnen und Germanen nannten sich und ihr Land selbst niemals so.

Die Quellenlage über das Leben unserer Ahnen ist dürftig und von der römischen »Kriegspropaganda« schwer beschädigt. Danach taten die »Christen« ihr übriges. Auf diese Weise verkarstete unser Mutterboden, und unsere Wurzeln verkümmerten darin. Um unsere Wurzeln wieder aufzuspüren, begab ich mich auf die Suche nach unserer Geschichte. Meine Funde gebe ich gerne an Geschichtsinteressierte weiter.

Warum heißt das Heidentum eigentlich Heidentum?

Nur im Deutschen gibt es diesen Begriff für Andersgläubige. Überall sonst heißt eine für den Eroberer fremde Volksgruppe indigene (einheimische) oder pagane (fremde) Ethnie. Nur im Deutschen gibt es den Begriff »Heidentum«, der mittlerweile in andere Sprachen mit aufgenommen wurde.

Heiðr (das ð wird wie das englische th gesprochen) ist die germanische Bezeichnung für Seherin. Es gibt eigentlich zwei Seherinnen-Frauentypen, die Heiðren und die Völven. Beide finden sich in der Edda, ein durch einen irischen Christen aufgeschriebenes germanisches Liederwerk über die nordische Mythologie. Edda wurde dereinst mit Urgroßmutter übersetzt. Ich habe lange gelesen und geforscht zu der Frage: Was ist der Unterschied zwischen diesen beiden Frauentypen? 

Warum heißen sie mal Heidr und mal Völva?

Den Völven wird nachgesagt, daß sie weise Frauen waren, »Seherinnen, die im wunderlichen Aufzug, einen Zauberstab in der Hand, im Lande umherzogen und in den Bauernhöfen einkehrten. Nach allerlei Zurüstungen und Zauberliedern verkündeten sie von ihrem Zauberstuhle aus den Hausgenossen die Zukunft. Die Sögur [alt-isländische Dichtungen] berichten von dem Treiben dieser weisen Frauen aus den letzten Zeiten des Heidentums.« 

Die in Fellkleidung gehüllten Frauen mit dem langen Stab (Völva = Stabträgerin) galten den Römern und römischen Christen als gefährliche Zauberinnen. Ihr Beiname war Heidr oder Hexe. Ihr erhöhter Zauberstuhl bzw. ihr hohes Zaubergestell hieß im Germanischen Seiðhjallr. Es wurde von den Gastgebern an einem zentralen Platz im Dorf oder Gehöft aufgestellt. 

Darauf saß oder stand die Völva, gut sichtbar und hörbar für alle. Von dort sang sie ihre Zauberlieder und lehrte ihre Kunst. Es heißt: Ihre Kunst bestand in Wahrsagerei. »Der Wahrsagezauber ist zweifellos eine Form von Schamanismus«, schreibt Simek im Lexikon für germanische Mythologie. Dafür gibt es bei den Germanen frühe Belege. Der altgermanische Wahrsagezauber ist kulturgeschichtlich mit dem Schamanismus zahlreicher Völker vergleichbar.

Golther schreibt weiter. »Die Völva entstammt dem Riesengeschlecht und so reichen ihre Erinnerungen bis in die Tage der Urzeit, wo allein jene riesischen Urwesen hausten. Sie [die Völva] gedenkt der Schöpfung der Welt…« 

Damit spielt er auf die Völuspá an, die »Weissagung der Seherin«, sicherlich das berühmteste Lied der Edda.

Wir dürfen uns ihr Wirken also so vorstellen: 

Die Völva kam auf ihren langen Wanderungen durch die Weiten der Wälder und Hochebenen in ein Dorf, ging in die Dorfmitte, wo ihr ein hoher Stuhl gegeben wurde, der Seiðhjallr, der »Zauberstuhl«. Darauf setzte sie sich – und dann sang und sprach sie zur Bevölkerung. Sie brachte Nachrichten mit und Heilrezepte, machte spirituelle Arbeit und unterrichtete Groß und Klein in vielfacher Weise. 

Ich bin davon überzeugt, daß die wandernden Frauen, die Völven, diejenigen waren, die während der ganzen 550-jährigen Belagerungszeit durch die Römer dafür gesorgt haben, daß die politischen Informationen von Ort zu Ort gelangen konnten. Ihnen und der hochentwickelten Thingkultur dürfte es zu verdanken sein, daß die germanischen Stämme so lange durchhielten im Widerstand gegen die römischen Eroberer, um Kultur und Lebensweise ihrer Großmütter und Väter zu verteidigten. Erst die römischen Christen konnten sie brechen.

Wir müssen uns vorstellen: Es war ja alles Wald. Und die Stämme wohnten sehr weit auseinander. Wie anders als über die Völven hätte Vernetzung passieren können? Die Völven gingen von Ort zu Ort und erzählten: »Da sind die Römer und dort sind die Römer. Wir müssen Bündnisse schließen!« Und sie haben die Bündnisse organisiert. Daher bin ich überzeugt, daß sie politisch eine ganz wichtige Rolle spielten. Deswegen sind sie auch so bekämpft worden!

Die Heiðren hatten eine andere Aufgabe: 

Sie waren seßhaft. Sie waren die Hüterinnen der Orte. Die Völven sind gewandert, und die Heiðren waren ortsansässig. Sie betreuten vor Ort den heiligen Hag. Der Hag oder Haag war ein mit einem aus Knüppelholz (= Hag) erbauten Zaun umfriedeter Ort. Dort waren die Heiðren Hag-Hüterinnen oder von mir aus auch Priesterinnen! 

Sie waren verantwortlich für diesen heiligen Ort. Deshalb stammt der jüngere Begriff »Hexe« vom althochdeutschen Hagzissa (Hag-a-zissa/zu(sa)) ab: Die Heiðr war die Zissa oder Zusa vom Hag, die junge und alte Hag-Hüterin. 

Heiðren waren also Gebietshüterinnen. Mit ihrem Auftrag, das Gebiet zu schützen, standen sie den Eroberern entschieden im Weg! 

Niedergang und Widerstand

Caesar belagerte die Germanen erstmals 50 v.u.Z. Danach gab es immer wieder brutale Überfälle durch die Römer: meist aus dem Hinterhalt, oft während heiliger Feste, bei denen keine Waffen getragen werden durften. So fanden zahllose germanische Menschen den Tod.

Die Wendezeit – und damit der Niedergang der altgermanischen Kultur – begann nach dem Niederschlagen des von der Seherin Veleda angeführten Bataver-Aufstandes und zeigte seine Fratze im Bau der römischen Mauer (Limes) um 80 bis 200 u. Z., die zahlreiche Stammesgebiete zerschnitt.

In den nun folgenden schwierigen Zeiten, die sich ab dem Beginn der römisch-christlichen Missionierungen noch verschärften, wurde der Einsatz für den Erhalt ihrer alten Kultur besonders für Thingpriester, Heiðren und Völven immer gefährlicher. Als die stark gewordenen Christen sich mit den politischen Mächten vereinten, wurde das Thingheiligtum zerstört, die Thingpriester verjagt und Heiðren und Völven bezichtigt, des Nachts auf Tieren durch die Lüfte zu reiten, im Gefolge der dämonischen Göttin Diana. 

Was für ein Unsinn, denn Diana kam aus Rom und war hier völlig unbekannt!

Lange noch versahen Heiðren und Völven ihren alten Dienst. 

Sie trafen sich nun heimlich mit den Menschen der Dörfer, um ihre Gottheiten zu ehren und Widerstand zu planen. Dieser drückte sich in den später als Bauernaufstände bekannt gewordenen zahllosen Rebellionen aus. Die Treffen werden nach wie vor in einem alten »Hag« stattgefunden haben, die immer auch heilige Thingplätze waren: der Mutter Erde (Erce) geweihte Orte, oft Anhöhen, natürliche Gräben oder Gesteinsformationen, fast immer verbunden mit Wasser- und Quellgebieten. 

Dort brachten die Menschen seit eh und je ihren heiðrischen Gottheiten sowie ihren Großmüttern und Ahnen Trankopfer dar, feierten und vergaßen für kurze Zeit ihr Elend, in das sie von den Fremden und ihren zu Verrätern und Vasallen gewordenen eigenen Leuten gestoßen worden waren. 

Lange noch, in den finsteren Zeiten der Leibeigenschaft, wanderten die einst freien Menschen bei Vollmond kilometerweit zu diesen Orten, von denen einige uns heute noch als »Hexentanzplätze« bekannt sind. Dort haben sie sich bis zum Ende des Mittelalters und möglicherweise weit darüber hinaus getroffen und ausgetauscht.

Diese starken Bündnisse unter den Seherinnen, deren Treffen dann ja als »Hexensabbat« verunglimpft wurden, war eine politische Stabilität im Widerstand. Dieser politische Widerstand führte letztendlich zu den Bauernaufständen, die später als Bauernverschwörungen, Bundschuhbewegung und zu Luthers Zeiten als Bauernkriege bezeichnet wurden. 

Martin Luther war ein absoluter Gegner der Bauernkriege und in schlüssiger Folge bedingungslos dafür, daß diese »widerspenstigen Frauen« verbrannt wurden. Zu Luthers Zeiten begann die Hochzeit der »Frauen-als-Hexenverbrennungen«, die erst nach der Renaissance langsam abklang. 200 Jahre grausamste Verfolgung, vor allem der Frauen, zerstörte den Widerstand der Frauen und der einst an die Mutter gebundenen Männer.

Danach schämten sich Männer, weich, sensibel und »Muttersöhne« zu sein. Und Frauen unterwarfen sich dem Machtwort und allen Schandtaten des Mannes schweigend und damit bedingungslos.

Erinnern wir uns:

Frauen waren lange der Motor des Widerstands! Unsere Ahnen waren keine Barbaren! Sie waren keine »stets kriegsbereiten« Männer, die allein das Sagen hatten, während irgendwo im Hintergrund die Frauen und Kinder lebten und die ganze schwere Hausarbeit verrichteten! Das ist ein total falsches Bild, ein Mißbrauch unserer Geschichte für militärische Zwecke, eine Kriegspropaganda der Römer, die bis heute Gültigkeit hat. Es ist eine glatte Lüge! 

Hier bei uns gibt es eine lange Tradition, in der Frauen dominant und politisch aktiv waren. Jugendliche Frauen und Männer wuchsen völlig gleichberechtigt auf, wie Tacitus bemerkte. Mit der römischen Kolonialisierung begann eine lange Tradition des Widerstandes, die sich während der brutalen Christianisierung fortsetzte und deren Spuren trotz zahlloser Geschichtsveränderungen in vielen Überlieferungen zu finden sind. 

Frauen, die nun mal die Großmütter und Mütter der Söhne und Töchter sind, bleiben für Machthaber immer unberechenbar: denn sie erzogen, wie schon Augustinus beklagte, immer wieder neue »Heiden«! Tatsächlich erzogen sie immer wieder neue Heiðren und Völven und gaben ihnen lange noch ihr altes Wissen weiter. Ihre Dominanz in den Dörfern dürfte so manchen Aufstand befeuert haben. Darin liegt ein Grund, warum die Frauen als »Hexen« verbrannt wurden. 

Es gab aber noch andere Gründe: Die Frauen haben sich gegen die Einführung des Kapitalismus gewehrt. Sie wollten keine Geldwirtschaft. Sie sahen keinen Sinn darin. Sie sehen auch immer noch keinen Sinn drin. 

Und heute? Wiederholt sich unsere Geschichte?

Ich stehe auf einer von Raureif glitzernden Wiese mitten im Wald. Es ist Winter. Es ist Nacht. Über mir blinken und funkeln Abermillionen Sterne. Der Wald um mich herum steht schwarz und schweigend und hebt sich machtvoll ab vom nahen Horizont. 

Wie lange steht er hier schon? Ich spüre meine Ahnen. Ich fühle ihre Geschichten. Ich weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll. 

Um Orientierung flehend, blicke ich auf zu den Sternen. Sie blinken und winken, sie lachen und zwinkern mir zu. Ein ewig sich wandelndes Universum. Ein einziger Vers. Nichts und Stille. Weite und Tiefe. Sehnsucht überschwemmt mein Herz: 

»Ach wenn ich nur wüßte,
wo da oben meine
Sternenheimat ist.« 

Eine leise Stimme spricht: »Flieg!« 

»Willst du mich ärgern?«, denke ich. 

Ein glockenhelles Lachen
ertönt: »Erinnere dich!« 

Ich drehe mich um – doch nichts… Ich sehe nichts, außer leise schwirrende Silberfäden im Lichte der Sterne. 

Alles hat einen Sinn! Ja, gut, ich bin von Blindheit geschlagen. Aber sind das nicht alle Menschen?

Wärme und ein Verstehen erfüllen mein Herz: Ich bin ihnen so dankbar, den Alten, den Uralten, unseren Großmüttern, diesen Großen Müttern der längst vergangenen Zeit, die ihr Leben einsetzten, damit wir es einmal besser haben sollten. Darin liegt jetzt unsere Verantwortung.

Autorin
Birgit Weidmann

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